Harry Potter Reloaded

J.K. Rowlings Zauberschüler geht in die fünfte Klasse

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Samstag, der 21. Juni 2003, 12.30 Uhr. Endlich das langerwartete Klingeln an der Tür, endlich der Paketbote, endlich das große Geheimnis in Händen: "Harry Potter and the Order of the Phoenix". Bunter Bloomsbury-Einband, bunter Phönix auf dem Cover, 766 Seiten Geschichte zwischen den Buchdeckeln. Na also, endlich kann er losgehen, der Lesemarathon.

Zuerst einmal beginnt der Band, wie jeder der vier Bände vor ihm, im Privet Drive. Es ist Sommer, es ist heiß und Harry liegt im Garten des Hauses seiner Tante Petunia herum. Er wartet auf Nachrichten. Immerhin war der Sommer lang und langweilig - Harrys Freunde und sein Patenonkel Sirius haben sich mit Neuigkeiten zurückgehalten, und Zaubern ist in den Ferien verboten. Harry wird ungeduldig - seit Monaten fühlt er sich eingesperrt, zurückgelassen im Haus der Dursleys - und er ist aufgebracht.

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Drei Jahre hat J. K. Rowling an diesem Buch gearbeitet, viele Buchseiten gefüllt mit neuen Abenteuern des kleinen Zauberlehrlings, der nun gar nicht mehr so klein ist. Harry wird 15, er pubertiert. Und wie. Wütend ist der junge Mann (sind es die Hormone?). Er wartet auf einen Moment, in dem er seinen Zorn an etwas oder jemandem auslassen kann, der verhasste Cousin wäre der richtige, soll der ihn bloß ansprechen... Doch es kommt anders: Dementoren im Privet Drive, Harry muss nun doch Zauberei einsetzen, um sie loszuwerden - und dann geschehen plötzlich ganz viele Dinge auf einmal: Flucht aus dem Haus der Dursleys, Flucht hin zu Number Twelve, Grimmauld Place, Quartier des Patenonkels - und gleichzeitig Sitz des Order of the Phoenix, wo einige wenige Zauberer (vergeblich) versuchen, die Welt von der Rückkehr des bösen Zauberers Voldemort zu überzeugen. Das Ministry of Magic arbeitet mit seiner ganzen Medienmaschine gegen sie.

Hermione, Ron und der Rest der Weasleys sind ebenfalls vor Ort. Man freut sich, Harry zu sehen, doch dieser ist noch immer wütend, er fordert Informationen ein, er ist kein kleiner Junge mehr, er will nicht mehr tun, was man ihm sagt, er will nicht unterschätzt werden, er braucht keine Beschützer mehr vor der Realität. Ganze Absätze schleudert er der Welt in Großbuchstaben entgegen.

Diese neuen Charakterzüge Harrys wirken zuweilen ein wenig befremdlich. Manche mögen finden, dies sei psychologisch durchdacht oder bringe endlich etwas mehr Dunkelheit und Tiefe (sprich: Realismus) in den Protagonisten, und zugegeben, ein wenig teenagerhafte Angst und Aggression muss wohl sein, wenn ein Serienheld erwachsen wird. Doch da keiner seiner (gleichaltrigen) Freunde auch nur einen Bruchteil dieser Ängste und Empfindungen teilt, scheinen diese Zornesausbrüche (besonders am Anfang) zuweilen aufgesetzt zu sein.

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Nach zwei Stunden des Lesens unterbricht mich der Anruf eines interessierten Freundes, der auf die deutsche Ausgabe im November warten will, ohne sich jedoch bis dahin auf die Folter spannen zu lassen: Wie ist er denn, der neue Harry Potter? Und vor allem: Wer stirbt denn nun? (Seit Monaten konnte man die hitzigen Diskussionen darüber im Internet verfolgen...) Doch so schnell geht es nicht.

Es dauert länger als in jedem der anderen Bände, bis alle wieder am Gleis 9 3/4 angekommen sind, sich in den Zug nach Hogwarts setzen. Und dort angekommen, stellt sich bald heraus, dass die Schule, die bisher Harrys eigentliche Heimat war (und die heimliche Heimat vieler Leser: Wer wünscht sich nicht, besonders zu sein, zaubern zu können, die Welt zu retten, sie gar zu verwandeln?), sich ebenfalls verändert hat. Es ist etwas faul in Hogwarts. Auch hier ist das Ministry of Magic am Werk, welches die neue Lehrerin für Defence against the Dark Arts stellt. Spätestens auf Seite 240, als Harry zum ersten Mal nachsitzen muss und die Lehrerin eine Art Folterinstrument auspackt (ist dies eigentlich noch ein Kinderbuch?), hat J. K. Rowling ihr Ziel erreicht, und wir hassen diese Dolores Umbridge. Mit der Macht der Paragraphen macht sie den Schülern und Lehrern in Hogwarts das Leben zu Hölle. Ja, die Welt der Zauberer ist dunkler geworden. Und Auswege gibt es nicht: Kein Quidditch für Harry, dieses Mal, kaum Kontakt zum noch immer als Mörder gesuchten Sirius, und auch Hagrid ist verschwunden. Aber: Harry hat eine Freundin. Doch die schafft dem Helden nur noch mehr Probleme.

Mehr kann ich noch nicht sagen, warte, rate ich dem Ungeduldigen. Und beginne das nächste Kapitel.

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Weitere vier Stunden später, erneuter Anruf, es ist kurz vor sieben. Schon fertig? Was passiert denn nun? Und welches Geheimnis verrät der Schulleiter von Hogwarts dem jungen Harry?

Schon lange vor Erscheinen des Buches waren zwei Sätze des neuen Romans im Internet veröffentlicht worden. Der erste Satz von "The Order of the Phoenix" - und ein Satz, der den Fans das Warten doppelt schwer machte, ein Satz, in dem Albus Dumbledore Harry verspricht, dem jungen Zauberer endlich alles zu erzählen, alles, was er ihm schon vor fünf Jahren hätte sagen sollen. Doch nein, noch weiß ich nicht, was der Schulleiter dem Jungen berichten wird. Geduld.

Ist er wenigstens gut?, kommt die bange Frage, und darauf mag ich erst gar keine Antwort geben. Das Buch hätte (vor allem in der Mitte) ruhig kürzer ausfallen können, ohne dass die Geschichte darunter gelitten hätte. Manches wiederholt sich ohne erkennbaren Grund. Darüber hinaus gibt es einige beinahe lächerliche Sätze in diesem Buch, z. B. "Harry's heart beat a violent tattoo against his Adam's apple." Ich kann mir vorstellen, was dies bedeuten soll, weiß aber nicht, was dieser Satz in einem ansonsten sprachlich hochwertigen (doch manchmal etwas schlecht lektorierten) Roman zu suchen hat.

Denn ansonsten ist offensichtlich, dass J. K. Rowling die vergangenen drei Jahre, die die Fans auf den neuen Harry Potter warten mussten, nicht nur damit zugebracht hat, ihr Geld zu zählen: Wieder lebt die Zauberwelt von den winzigen Details, die die Autorin einfügt und die das "Potterversum" zu einem vorstellbaren, wirklichkeitsnahen Ort machen, an den sich so mancher zurückziehen würde - neue Kreaturen (wie zum Beispiel die Thestrals, geflügelte Pferde, die nur wahrnehmen kann, wer schon einen Menschen hat sterben sehen), neue Zaubersprüche (die Weasley-Zwillinge haben Harrys Geldgeschenk aus Band vier genutzt, um ihre Scherzartikel zu verbessern), neue Schauplätze (besonders schön das Haus von Sirius Black, unsichtbar eingeklemmt zwischen zwei Muggle-Häuser, bevölkert unter anderem mit einem sauertöpfischen Hauselfen und einem Porträt von Blacks Mutter, welches nun stellvertretend, auch nach dem Tod der Portraitierten, dem Sohn das Leben schwer macht). Und auch die Dialoge zeugen von der Tatsache, dass die Welt der Wizards und Witches die Welt der J. K. Rowling ist, in der sie sich offensichtlich - auch nach der langen Pause - noch immer zu Hause fühlt.

Die Chemie zwischen ihren Charakteren stimmt, es kommt zu großartigen Szenen z. B. zwischen den alten Feinden und mittlerweile an einem Strang ziehenden Sirius und Professor Snape. Es ist eines von Rowlings großen Talenten, dass ihre Charaktere (trotz aller Veränderungen) immer wiedererkennbar bleiben und dass ein jeder seine eigene, unverkennbare Persönlichkeit hat. Denn einige überraschende Wendungen bringt der neue Roman - Harry entdeckt, dass seine Eltern nicht die perfekten Menschen waren, für die er sie immer gehalten hat. Auch das gehört wohl zum Erwachsenwerden dazu.

Wunderschön sind ebenfalls die kleinen Anspielungen auf die vorherigen Bände - immer wieder gelingt es der Autorin damit zu überraschen, dass Entwicklungen (unbemerkt) schon in einem der früheren Romane angelegt waren.

Also ja, sage ich dem Anrufer, er ist gut. Lies doch selbst, stör mich jetzt nicht, es wird spannend.

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Gegen 22.30 Uhr klappe ich das Buch zu. Diesmal bin ich diejenige, die anruft. Die erste Frage: Wer denn in "The Order of the Phoenix" den Heldentod sterben muss? Das ist schwierig zu beantworten, denn im Grunde genommen tut dies niemand. Dieser so medienwirksam verkündete Tod ist so belanglos und so unnötig, dass man sich die Frage stellen muss, ob es der Autorin nicht vor allem um die Publicitywelle ging, die mit den wilden Spekulationen der Fans (Hermione? Ron? Neville? Und bloß nicht meine Lieblingsfigur!) ausgelöst wurde.

Ich will es nicht verraten, sage ich meinem Gesprächspartner (tue es dann aber auf einiges Nachfragen doch noch), denn ich bin ein wenig enttäuscht. Der Tod ist nicht immer nobel, es trifft häufig die Falschen, und ja, auch diejenigen, die sich um die gute Sache bemühen, sind nicht unsterblich. Aber es braucht wohl keinen Roman, um uns daran zu erinnern. (Später lese ich in einigen Fan-Rezensionen im Internet, dass den meisten Rowlings Versuch, dem Leser auf den letzten Seiten des Romans eine bis dahin positiv gezeichnete Figur unsympathisch zu machen, um ihren Tod im Roman gerechtfertigt erscheinen zu lassen, sauer aufgestoßen ist.)

Und das Ende?, werde ich gefragt. Das erscheint - im Gegensatz zum Rest des Romans - wenig durchdacht. Im Zusammenführen aller - darunter vieler dünner, kleiner, vom Leser übersehener - Fäden lag bei den vorherigen vier Bänden eine weitere große Stärke der Autorin. Sich jedoch hier durch beinahe siebenhundert Seiten zu lesen, um dann festzustellen, dass die große Lösung des Rätsels auf den letzten sechzig Seiten uninspiriert und kurzfristig ausgedacht wirkt, ist ernüchternd. Das große Geheimnis, um das Harry kämpft und das ihm am Ende des Buches mitgeteilt wird? Hier erfährt der Leser auch nicht mehr, als in den vier Bänden zuvor schon festgehalten wurde. (Hätte ich gewusst, dass Voldemort so verzweifelt nach einer Zusammenfassung sucht, dann hätte ich ihm eine per E-Mail geschickt, schreibt ein Fan.) Der große Showdown endet im Nichts.

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Auch hier könnte man wieder anbringen, dass dieses Ende ein realistisches sei, ein dem Leben nachempfundenes. Doch wer liest schon Fantasy-Literatur, weil er Realismus möchte?

Der große Erfolg der Harry Potter-Romane lag - zumindest zu Beginn - auch daran, dass Hogwarts und die Welt der Magier dem Leser eine Welt hinter der eigenen Welt versprachen, eine Welt, in der nichts verloren geht, in der jeder Bestandteil eine Bedeutung und einen Sinn hat, eine hoffnungsvolle Welt, in der trotz Krieg, trotz aller Feindschaft am Ende doch immer (und dies auf ruhige, gar nicht aufdringliche Weise) die Versöhnung und die Freundschaft standen. Ist dies eskapistisch? Vielleicht. Unrealistisch? Mag sein. Simplistisch? Nicht unbedingt. Vielleicht brauchen wir Bücher, die so optimistisch in die Zukunft weisen.

Und vielleicht hat sich diese zuversichtliche Sichtweise doch noch nicht ganz verflüchtigt: Zu Beginn des Schuljahres hatte sich der Sorting Hat in die Politik der Schule eingemischt, erinnere ich mich. Er hat die Schüler dazu aufgerufen, sich gegen die Feinde von außen zusammenzuschließen, über die Grenzen der vier Häuser hinweg, Feindschaften außer acht lassend. Und immer wieder wird - zuweilen auch etwas pathetisch - darauf verwiesen, dass es die Liebe von Harrys Mutter war, die ihn den Angriff Lord Voldemorts überstehen ließ. Dass es die Fähigkeit zu lieben ist, die Harry stärker macht als seinen Gegenspieler.

Bleibt nur zu hoffen, dass J. K. Rowling am Ende der Serie dieses doch sehr negativ gestimmte Buch nicht durch ein zuckersüßes Warner-Brothers-Happy-End überkompensiert.

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Soll ich den Roman denn trotzdem lesen, fragt mich der Freund am anderen Ende der Leitung. Und trotz allem sage ich ja. Auf jeden Fall.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Order of the Phoenix.
Bloomsbury Publishing, London 2003.
766 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 0747551006

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