Ears wide open

Man halte die Augen ruhig fest verschlossen und öffne dafür weit die Ohren für die Hörbuchfassung von Arthur Schnitzlers "Traumnovelle"

Von Julia DombrowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Dombrowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sagt man so schön? Über Geschmack lässt sich durchaus streiten, denn wenn nicht über den - worüber sonst? Kaum ein eingefleischter Kubrick-Fan, dem das letzte Werk des großen Meisters der Regie, "Eyes wide shut" nach der "Traumnovelle" von Arthur Schnitzler, nicht hysterische Worte der Begeisterung entlockt hatte - dennoch wagten ganz mutige Kritiker, ihren Unmut über Tom Cruises debiles Grinsen während weiter Teile des Filmes zu äußern - sie begründdeten dies mit ihrem ästhetischen Feingefühl.

Die wahre Schnitzler-Renaissance der letzten Jahre und Jahrzehnte bringt nach und nach Neubearbeitungen seines Œuvres hervor, jüngst erschien im Patmos Verlag die Hörbuchfassung der "Traumnovelle", gelesen vom Wiener Schauspieler, Regisseur und Intendanten Peter Eschberg. Ein Urteil sei hier vorweg genommen: Es geht auch prima ohne Tom Cruise.

Albertine und Fridolin leben ein glückliches Leben der gehobenen Mittelklasse im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts. Sie sind ein trautes Paar: Er ein erfolgreicher Arzt, sie eine vom Dasein als Hausfrau und Mutter erfüllte Ehefrau. Doch welches Glück ist nicht brüchig?

Albertine gesteht ihrem Gatten eine erotische Phantasie aus ihrer Vergangenheit, in der ein völlig Fremder die Hauptrolle spielte. Stärker noch als durch diese Untreue im Geiste fühlt Fridolin sich verraten, als Albertine ihm beinahe unbefangen den Inhalt eines nächtlichen Traumes erzählt, in dem sie sich vielen gesichtlosen Unbekannten hingibt und derweil lachend zuschaut, wie Fridolin ans Kreuz geschlagen wird. Die Botschaft, die hinter diesem Traum steckt, begreift sie selbst beim Erzählen nicht, entblößt sich ihrem Ehemann allerdings schnell: "Kein Traum ist völlig Traum". Die Macht des Unbewussten ist gigantisch, so begreift Fridolin, nicht durch Überwachung des Bewusstseins zu bändigen. Erotische Wünsche, aus der Reflexion verbannt, haben ihre Wurzeln längst irgendwo jenseits von Kontrolle und Gesellschaftsnorm geschlagen - doch manchmal treten sie wider Willen des Wünschenden zutage. Zutiefst verbittert stellt Fridolin seine Ehe und seine Liebe zu Albertine in Frage.

Derweil lebt Fridolin in der Realität, was Albertine nur in der Phantasie widerfährt: Durch mehr als einen Zufall gerät er in die Kreise einer geheimen Gesellschaft und erlebt als Zuschauer eine Orgie, die wie aus einem Traum geboren scheint. Doch er wird als Eindringling entlarvt und unter Drohungen des Ortes verwiesen.

Die Geheimnisse dieser Nacht werden zur Parabel: Welche Anstrengungen Fridolin auch unternimmt, er kann keines der beobachteten Mysterien entschlüsseln, gesichtslose Mächte stellen sich seinen Nachforschungen in den Weg, er findet keine Antworten, nur neue Fragen. Die Geheimnisse des Unbewussten und des erotischen Verlangens sind nicht weniger verborgen - ihm und seiner Albertine. Das Ehepaar findet trotz dieser Episoden wieder zueinander. Und sie haben aus dem, was sich ihnen offenbart hat gelernt. Sie werden erneut zum trauten Paar, aber ohne die Illusion, einander ganz zu kennen und zu gehören.

Peter Eschbergs Stimme geleitet durch die Atmosphäre des nächtlichen Wien, einem Wien Sigmund Freuds, einem Wien der Psychoanalyse und der Traumdeutung, einem Wien, das sich ganz dem Unbewussten verschrieben hat. Eschberg interpretiert die Vorlage auf klügste Weise: Er liest mit großer Distanz, denn der Text selbst zieht so in den Bann, dass jedes "Mehr" ein "Zuviel" wäre. So wird der Interpret zum reinen Medium, ohne durch Schnörkel oder Firlefanz zu verunzieren.

Mal im Vertrauen gesprochen: Sinnliche Literatur geschlossenen Auges genießen zu dürfen, klingt doch nach Bereicherung, da schweifen die Gedanken in Schnitzlers Traumwelten und nichts Störendes jenseits des Bücherrandes lenkt ab. Doch man halte bloß die "ears wide open"!

Titelbild

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. 3 CD. Interpret: Peter Eschberg.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2002.
193 min., 14,95 EUR.
ISBN-10: 349191101X

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