Gedenkkerzen

Drei neuere Bücher von Lily Brett umkreisen das Trauma 'Auschwitz'

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1946 wurde sie als Luba Brajsztajn im oberbayerischen DP-Lager Feldafing geboren. Ihre Eltern, polnische Juden aus Lodz und Überlebende von Auschwitz, wanderten zwei Jahre später nach Australien aus. Luba, die mit neunzehn Jahren ihre ersten schriftstellerischen Gehversuche bei einem Rockmagazin machte, indem sie Interviews mit Rockgrößen wie Jimi Hendrix, The Who oder den Rolling Stones führte, übersiedelte schließlich Ende der achtziger Jahre nach New York. Dort gelang der Autorin, die unter dem Namen Lily Brett lebt und schreibt, 1994 mit dem Roman "Just like that" (1994; dt. "Einfach so", 1998) der Durchbruch: Das Alltagsporträt einer jüdischen Familie im Mekka aller Neurosen, ein Kompendium leichthändig und spritzig ausgebreiteter Middle-Class-Probleme in New York vor dem Hintergrund des nachwirkenden Traumas des Holocaust, wurde auch in Deutschland zum Bestseller. Dem Roman folgte einige Jahre später mit einer Sammlung von Essays unter dem Titel "In Full View" (1997; dt. "Zu sehen", 1999) ein sehr privates "Werkstattbuch": Mixturen eines zeitadäquat über sich aufgeklärten Bewusstseins, in denen der Genozid und der Seelenmord an den Überlebenden immer gegenwärtig sind: als dunkle Folie und zeitresistente Determinante. Brett schrieb, in der ersten Person und ganz ohne den Schutzmantel der Fiktion, über sich und ihre Familie, verband meisterlich Alltagsbeobachtungen mit Erinnerungen, mischte Brisantes, Privates und Prekäres. Lily Bretts Schreiben, das stets und nur ein wenig verfremdet um die eigene Familiengeschichte kreist, ist die Sisyphos-Arbeit einer Nachgeborenen der zweiten Generation. Ihr Insistieren auf urbaner Normalität und Anonymität im New Yorker Schmelztiegel der Kulturen, ihr zu Recht viel gerühmter Humor, ihre mitunter groteske Selbstentblößung, in der sich der horror vacui zu erkennen gibt, die Fragilität eines inneren Gleichgewichts, das steter Bedrohung ausgesetzt ist: All das resultiert aus dem Bemühen, das eigene Leben dem Schatten von Auschwitz zu entreißen. Gesucht wird allerdings weniger nach Narrativen für die Darstellung des Grauens als vielmehr nach einer Grundlage für Literatur nach dem Holocaust. Anders als in der jüdischen Nachkriegsliteratur steht der Genozid in Bretts Texten nicht mehr im Vordergrund. Gleichwohl stellt die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden die Referenz ihrer Bücher dar, auch wenn sie nicht deren Thema ist.

In Lily Bretts zweitem, 1999 erschienenem Roman, "Too Many Men" (dt. "Zu viele Männer", 2001) spiegelt sich, kaum durch Reflexionen gefiltert, der emotionale Aufruhr einer Reise zum Ursprung des Schattens wider, an die Orte, an denen die Eltern der New Yorker Protagonistin Ruth Rothwax, Inhaberin einer New Yorker Agentur, die Korrespondenz für alle Lebenslagen erledigt, gelebt und gelitten haben. Es gelingt Ruth, ihren verwitweten Vater Edek zur Teilnahme an dieser tour de la mémoire nach Polen zu überreden. Gemeinsam besuchen sie das Ghetto und die frühere Familienwohnung in Lodz, machen Zwischenstation in Krakau und fahren anschließend nach Auschwitz, wo Edek und seine Frau bis 1944 interniert waren. Auch hier offenbart sich das Trauma als Sprachfigur: Das Ende aller Geschichten, das die nationalsozialistischen Lager für Edek und Ruth bedeuten, lässt sich nur schwer erzählen. Edek zeigt sich als typischer Vertreter der ersten Generation: ein einfacher Mann, weltklug-resignativ und sinnenfroh, der das Trauma ein Leben lang in sich eingekapselt hat. Unruhig und ungeduldig folgt er der Tochter auf den nicht mehr lesbaren Spuren jüdischen Lebens in Polen, sein jahrzehntelanges Schweigen nur widerwillig durchbrechend. Ruth hingegen übernimmt die klassische Rolle des Opferkindes, bestrebt, die zerbrochenen Verbindungen zwischen sich, den Eltern und der Gemeinde, in der diese vor dem Holocaust gelebt hatten, wiederherzustellen. Die israelische Psychotherapeutin Dina Wardi hat in ihrem Buch "Siegel der Erinnerung" (1997) für diesen Sachverhalt den Begriff 'Gedenkkerze' geprägt. Das Drama, in dem Ruths Psyche gefangen ist, erhält seine Stimuli aus dem großen Schweigen Edeks, in dem sich die Erblasten gleichsam atmosphärisch übertragen haben. Ruth stellt sich dem Leser als ressitimentgeladene, verbitterte Person dar, die ihre Privatsphäre hysterisch verteidigt und ihre frühmorgendlichen Warschauer Joggingpfade als Exerzierfeld für ihren übersteigerten Narzissmus missbraucht. Ihre Unversöhnlichkeit mit Land und Leuten, ihre gewaltbereite Idiosynkrasie gegen Verbrämungen des Terrors sind lesbar als Reflex auf das von den Eltern Sublimierte, ein emotionaler Kraftakt, der fast durchgängig in Ohnmacht mündet, die greifbar wird, wenn die Stimme des Vaters plötzlich ins Lakonische umkippt: "Es gibt nichts mehr zu weinen, Ruthie", bemerkt Edek, als sie vor dem Lagertor in Auschwitz stehen: "Es ist alles passiert. Zum Weinen ist es zu spät."

Lily Bretts Roman, das Journal einer Schreckensreise, angefüllt mit Zahlen und Fakten des Grauens und den Bruchstücken einer Familientragödie, desavouiert den Anspruch, Teilnahme mit den Opfern zu erwecken und über die Grauen aufzuklären, indem er gegen den blanken Hass eine bestürzende Nachgiebigkeit an den Tag legt. Nun ist Hass als Augenblicksventil durchaus nicht unzulässig - im Gegenteil: Verständlich sind Ruths bittere Reaktionen auf die Zeichen eines virulenten Antisemitismus, dem sich Polen reichlich spät zu stellen beginnt, verständlich ist auch der Abscheu, mit dem Ruth einem in der ehemaligen großelterlichen Wohnung hausenden entsetzlichen Greisenpaar begegnet, dem sie die kümmerlichen Reste des Familienbesitzes - Fotos, den Mantel ihres Großvaters, ein Teegeschirr - für Tausende von Dollars abkaufen muss. Verständlich ist schließlich ihre Verärgerung angesichts des Auschwitz-Tourismus, der Renaissance jüdischer Stereotypen im Andenkenkitsch und der Klezmer- und Schtetl-Mode. Unverständlich ist jedoch die den ganzen Roman durchziehende Suada über Polen: Ansichtig wird ein Volk von schmierigen und bestechlichen Opportunisten, dem "Hass und Alkohol" ergeben, frömmelnd und notorisch judenfeindlich. Ihre Häuser und Städte sind dreckig und verkommen, die Polin als solche ist hart oder animalisch-triebhaft, das Gros der Männer protzig, ungewaschen, manche erscheinen derart ekelhaft, dass man sie "schon vor Jahren hätte erschießen sollen". Dass Edek sich, anders als seine Tochter, für einzelne Menschen erwärmen kann und sich sogar von einer vollbusigen Polin im Hotel verführen lässt, vermag das an Stereotypen reiche Zerrbild nicht zu entkräften. Hier fehlt selbst ein Minimum an kritischer Reflexion, ein Umstand, der mit der intellektuellen Verantwortung einer Schriftstellerin, zumal einer explizit nach dem Holocaust schreibenden, nicht zu vereinbaren ist.

Selbst Lily Bretts unschlagbarer Humor schießt mitunter über sein Ziel hinaus. Immer wieder hört Ruth Stimmen, genauer: eine Stimme. Beim Joggen, beim Schwimmen, in der Hotelhalle beginnt der Auschwitzer Lagerkommandant Rudolf Höß mit ihr zu sprechen. Was sie zunächst für eine Halluzination ihrer überspannten Nerven hält, erweist sich als Exklusivverbindung in das "Zweite Himmelslager", einer euphemistischen Bezeichnung für die Hölle. Höß befindet sich in einem jenseitigen "Sensibilisierungstraining", das er durch den Kontakt mit Ruth erfolgreich abzuschließen hofft. Stattdessen gestalten sich ihre Gespräche als ein Exorzismus. Ruth durchschaut in Höß' Rhetorik nicht nur auswendig gelernte philosemitische Phrasen, sondern entdeckt auch, dass sie durch das Eingraben ihrer Hacken auf sehr unmittelbare Weise zu seiner Disziplinierung beitragen kann. Bis in die Wortwahl hinein folgt der Roman hier im Übrigen den Aufzeichnungen des realen Höß ("Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen", 1954), sogar manche der dokumentarischen Anmerkungen sind in die Romandialoge eingeflossen. Diese Passagen verdeutlichen, dass das Buch, das, wie Lily Brett in mehreren Interviews hervorhob, unter viel Mühen geschrieben wurde, oft nicht den richtigen Ton trifft. Möglicherweise ist der Reisebericht in Romanform vor allem deshalb gescheitert, weil Lily Brett hier den Holocaust aus der Marginalposition früherer Texte befreit, wo er manchmal wie beiläufig erscheint und den Leser überrumpelt, und in den Mittelpunkt ihres Schreibens rückt. So erschütternd und wortwitzig viele Passagen auch sein mögen, insgesamt ist "Zu viele Männer" über weite Strecken ein intellektueller Fehltritt, eine unnötige und übertriebene Hasstirade.

Nicht minder gewagt ist auch die Sammlung von Lily Bretts 1986 veröffentlichten "Auschwitz Poems", die, ebenso wie "Zu viele Männer", 2001 bei Deuticke in deutscher Übersetzung erschien. Der Waschzettel des Verlags bescheinigt diesen Auschwitz-Gedichten, "zu den kraftvollsten unter Lily Bretts Gedichtbänden" zu gehören und "zutiefst durch die Klarheit und Schönheit ihrer Sprache, aber auch durch die unaussprechliche Trauer, die hinter ihnen steht", zu berühren. Inwiefern man allen Ernstes ästhetisch-rhetorische Stilfiguren wie claritas und elegantia bemühen kann, wenn es darum geht, wie Kindern in Auschwitz das Rückgrat per Hand durchgebrochen wurde, wie man sie bei Schießübungen in die Luft warf und ihre Köpfe an die nächstbeste Mauer schlug, wie die Zählappelle und Latrinengänge im KZ verliefen, dass in den Suppen Blechabfälle, Bindfäden, Haare, Disteln und gelegentlich eine zerstückelte Maus zu finden waren, wie der SS-Arzt Dr. Josef Mengele sich als Zuschauer der Untaten verhielt, wie die Menschen "ins Gas" gingen, wie ihre Leichen raumsparend gestapelt wurden, dass "Arbeit macht frei" über dem Eingangtor zum Lager stand, was schließlich von den Häftlingen übrig geblieben ist: "38000 Paar Herrenschuhe/ 13964 Teppiche/ und/ 836 255 Kleider", entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten und mutet wie ein gedankenloser terminologischer Missgriff an.

Nein, diese Gedichte sind nicht schön, wollen dies auch gar nicht sein. Statt dessen thematisieren sie - ähnlich wie die autobiographischen Romane und Essaybände Lily Bretts - das Trauma des Holocaust und der von ihm ausgelösten Neurosen der Überlebenden und Nachkommen, etwa wenn es in einem der Gedichte heißt: "Erst jetzt vierzig Jahre später [...] kann ich erkennen, daß du mich liebst Mutter". Dieses Trauma durchzieht die Sprache und zeugt für die Ungestalt aller Gedichte nach Auschwitz: keine Strophe, nicht einmal ein Vers stellt sich ein, vom Wohlklang des Reims gar nicht zu sprechen. Die meisten Gedichtzeilen bestehen nur aus wenigen Wörtern, als könnten zu viele Wörter gar nichts ausrichten: gewollte Kunstlosigkeit, Minimalismus als Kunstprinzip, Kakophonie anstelle von elegantia. Auch die "Auschwitz Poems" erneuern, wie jedes Sprechen über den Holocaust, ein grundlegendes Dilemma: Einerseits fasst die Sprache das Geschehene nicht, andererseits soll und will gesprochen werden, um die Erinnerung aufrecht zu erhalten. Bretts lyrische Darstellung des Undarstellbaren, die von ihrem Ehemann, dem Maler David Rankin, illustriert wird, klammert in jedem Fall das von Claude Lanzmann vehement eingeforderte Abbildungsverbot aus. Dieser hatte in seinem Film "Shoah" von 1985 den radikalen ästhetischen Versuch gestartet, das Grauen auszumessen, ohne auf die Bilder des Grauens zurückzugreifen. Lanzmann selbst sprach sogar von der Notwendigkeit des Darstellungsverbots: "Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, daß er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig." Während Lanzmann das historische Ereignis der Shoah als Sich-Entziehendes kenntlich macht, geht Brett den anderen Weg: die Leere mit Inhalten zu füllen und die zerbrochenen und versteckten Mosaiksteinchen zu einem Ganzen zusammenzufügen.

Der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen und dem Einsammeln der Bruchstücke der Vergangenheit sind auch Lily Bretts Prosaminiaturen gewidmet, die 1990 unter dem Titel "Things could be worse" (dt. "Alles halb so schlimm", 2002) erschienen. Der Titel ist ambivalent: Was könnte noch schlimmer sein als ein Emigrantenschicksal nach dem Krieg, die Verwandten als Opfer des nationalsozialistischen Genozids, das Land, das man als seine Heimat angesehen hat, auf immer verloren, versetzt in eine fremde Umgebung mit fremder Kultur. Natürlich: It could be worse ... Die Texte erzählen von Josl und Renia Bensky, von ihren Kindern und Freunden in der jüdischen Gemeinde von Melbourne, von Zwistigkeiten und Versöhnungen, von Erinnern, Verdrängen und Vergessen. Thematisch verklammert werden die Texte durch die Geschichte von Lola Bensky, von ihrem ständigen Bemühen, mit den Neurosen ihrer Familie klarzukommen und dabei einen eigenen Weg zu finden. Renia Benskys Daseinsängste, ihr tiefes Misstrauen allem und jedem gegenüber, die unbewältigte, lange Zeit totgeschwiegene Vergangenheit sowie ihre unerträgliche Pedanterie und Hypochondrie lassen Lola zu einem schwierigen Geschöpf mit einer krassen Essstörung heranwachsen, das sich in Fantasiewelten einkapselt und sich erst als Erwachsene für die Erinnerungen und die Vergangenheit ihrer Eltern zu interessieren beginnt: "Als Dreißigjährige hatte Lola begonnen, ihre Eltern nach ihren Erlebnissen während des Krieges auszufragen. Sie hatten ihr geantwortet, zögerlich zuerst, doch sie hatten geantwortet. Lola hatte zugehört. Sie hatte still zugehört. Sie hatte mitgeschrieben. Einige der Interviews hatte sie aufgenommen. Ein langes Interview mit ihrer Mutter und eines mit ihrem Vater hatte sie auf Video aufgenommen. Und dennoch vermischten und drehten sich ihre Geschichten in ihrem Kopf." Auch hier steht der Genozid an den europäischen Juden im Hintergrund; zwischen den Zeilen wird immer wieder die Frage laut, wie all das jemals geschehen konnte. Unter der Normalität des Alltags, um die sich die Überlebenden mit aller Energie und scheinbar erfolgreich bemühen, lauern die Gespenster der Vergangenheit in Form traumatischer Erinnerungen.

Gefühlvoll, ohne larmoyant zu werden, erzählt Lily Brett berührende Geschichten aus dem australischen Alltag von Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern. Es sind nur locker miteinander verknüpfte Episoden, mit wechselnden Erzählperspektiven und zeitlichen Sprüngen, die sich gegen Ende hin auf die Figur der Lola Bensky, das alter ego der Autorin, fokussieren. In pointierten Abschnitten entsteht der Mikrokosmos einer ganz besonderen, einer faszinierenden Welt. Werkchronologisch stehen diese Geschichten am Beginn der schriftstellerischen Laufbahn Lily Bretts; im englischen Original erschienen sie noch vor ihrem Erfolgsroman "Einfach so". Daher verwundert es auch nicht, dass "Alles halb so schlimm" ein ähnliches Lesevergnügen ist wie die ersten Veröffentlichungen und in nichts den mitunter schlimmen Entgleisungen von "Zu viele Männer" ähnelt, auch wenn sich bereits hier ein negatives Polen-Bild bemerkbar macht, etwa wenn Renia Bensky ihre Tochter Lola warnt: "Die Polen waren schlimmer als die Deutschen. Sie haben uns wegen unserer abgerissenen KZ-Uniformen ausgelacht. Kleine Kinder haben nach uns getreten, wenn wir in den Städten in der Nähe des Lagers zur Arbeit gingen. Oh, diese netten Polen, diese guten Menschen, sie konnten es kaum abwarten, den Deutschen die Juden anzugeben. Sie konnten es kaum abwarten, unsere Wohnungen zu übernehmen, als wir ins Ghetto ziehen mußten. Sie haben unsere Kleider genommen, unser Porzellan, unsere Möbel. Sie haben die Geschäfte der Juden übernommen. Sie haben sich einfach bedient. [...] Und nach dem Krieg geschah ein Wunder. Kein einziger Mensch in Polen wußte das geringste über das, was mit uns passiert war. Kilometerweit konnte man in Auschwitz das verbrannte Fleisch riechen. Die Schornsteine rauchten vierundzwanzig Stunden am Tag. Der Himmel war Tag und Nacht rot, aber die Polen merkten nichts davon."

Ohne übertriebenes Pathos, mit Hilfe abseitiger, mit leichter Hand protokollierter Details gelingt es der Autorin, das nachhaltige Grauen erahnbar zu machen, das sich hinter der australischen Alltagsfassade verbirgt. Brett erzählt von Lieben und Liebschaften, Urlaubsreisen, Einkäufen, Essgewohnheiten und anderen Banalitäten des Alltags - alles erscheint bedeutsam für die Suche nach einer eigenen, jüdischen Identität. Auch Lola übernimmt, wie bereits vorher Ruth Rothwax, die klassische Rolle des Opferkindes: "Lola hatte sich schon früher auf der Leinwand gesehen. Sie hatte sich in alten Aufnahmen der Häftlinge in Dachau gesehen, die von der amerikanischen Armee befreit wurden. Sie wußte, daß das junge Mädchen hinter dem Stacheldrahtzaun in Dachau vor dem Graben voller Leichen sie war. Lola sah sich auch auf Fotografien. Sie sah sich auf Fotografien von Straßenkindern im Ghetto von Lódz. Sie sah sich auf einem Foto von einem kleinen Mädchen, das im Ghetto neben seiner toten Mutter sitzt. Sie sah sich auf Fotos von Jüdinnen, die in Lagern für Displaced Persons in die Kamera lächelten." Der Schuld-Komplex der zweiten Generation, der sich in einem stellvertretenden Leiden Ausdruck verschafft, das Sich-Imaginieren in den Kontext der Vernichtungslager korrespondiert mit dem Wunsch, das Trauma 'Auschwitz' durch Gedenkrituale zu bannen. An einer Stelle heißt es vielsagend: "Zornespfeile und Speere des Selbstmitleids piesakten ihre Gedanken. Ängste zerrissen ihre Nächte. Phantastereien und Träume waren in ihr Alltagsleben verschlungen. Sie hielt sich für Renia und Josl. Sie bildete sich ein, sie wäre im Ghetto gewesen. Sie bildete sich auch ein, sie wäre in Auschwitz gewesen." Und an einer anderen Stelle: "In ihrer Handtasche hatte sie ein Notizbuch mit den Namen der Eltern und Brüder und Schwestern ihrer Eltern. In diesem Notizbuch bewahrte sie auch ein Verzeichnis der Titel der Bücher über den Holocaust auf, die sie besaß. Lola haßte das Wort Holocaust. Es war zu ordentlich verpackt. Es hatte keine losen Enden, keine Zipfel und Fransen. Der Holocaust. Eine nette kompakte Abstraktion. Aber was sollte sie sonst sagen? Die Alternativen waren so wortreich. [...] Lola besaß mehr als tausend Bücher über den Holocaust. Die meisten davon hatte sie gelesen. [...] Und doch verschwanden die Tatsachen und Statistiken des Holocaust aus ihrem Gedächtnis. Sie mußte die Informationen immer wieder überprüfen."

Lily Bretts offener, nichts verklärender Blick, der auch vor den Neurosen und Grausamkeiten in den Familien nicht halt macht, ihr unverwechselbarer Stil und untrüglicher Sinn für Skurriles und Absurdes, der als sanfter Humor immer wieder zum Vorschein kommt, lässt dieses Buch, ähnlich wie ihre ersten auf Deutsch publizierten Texte, wieder zu einem großen Lesevergnügen werden. Wie Lily Brett einmal in einem Interview meinte, sei der tiefer liegende Grund, warum sie schreibe, den Eltern Gehör zu verschaffen, ihre Geschichte zu erzählen. Das ist ihr mit "Alles halb so schlimm" wesentlich besser gelungen als mit "Zu viele Männer".

Titelbild

Lily Brett: Auschwitz Poems. Mit Illustrationen von David Rankin.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz.
Deuticke Verlag, Wien 2001.
148 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3216305775

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Lily Brett: Zu viele Männer. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Melanie Walz.
Deuticke Verlag, Wien 2001.
656 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3216305082

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Lily Brett: Alles halb so schlimm.
Übersetzt aus dem Englischen von Melanie Walz.
Deuticke Verlag, Wien 2002.
235 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3216304477

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch