Es kommen härtere Tage

Peter Renner erzählt von Normalos im Schatten großer Industrie und Politik

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Lu" ist Ludwigshafen und niemand will hier wirklich seiner beruflichen Zukunft in der heimischen Chemie-Industrie entkommen. Gedankensprung. Die drei Freunde, Martin, Thomas und Richard, stehen kurz vor ihrem Abitur im Jahre 1986. Richard ist der Streber mit Einfluss, Thomas ist der eigentlich beste Freund, der immer wieder in Schwierigkeiten kommt, und Martin der "Normalo", durch dessen Perspektive der Leser durch die Handlung geführt wird. Anne ist die "Frau fürs Leben" - aber so etwas währt bekanntlich nicht lange, es zieht nur für einen kurzen Zeitraum die Aufmerksamkeit auf intensiv erfahrene Liebesgefühle. Gedankensprung. Während Richard fleißig für das Abitur übt und nebenbei den Stil des 'Coolen' vorgibt, weigert sich Thomas, die Schule ernst zu nehmen. Seine schlechten Noten kompensiert er durch gutes Fußballspiel. Allerdings reicht es hier nicht, um eine Profifußballkarriere zu starten, und dort nicht, weil eine gute Note letztlich doch ganz schön ist. Die bekommt Thomas für ein schriftliches Referat über Ingeborg Bachmann. Zur Aufgabe, die vom undurchschaubaren Deutschlehrer gestellt wird, gehört auch, ein Gedicht im selben Stil zu verfassen. Und so dichtet Thomas: "Sieh dich nicht um./ Schnür deinen Schuh./ Jag die Freier zurück./ Wirf die Schwänze ins Meer./ Lösch die Prostituierten./ Es kommen härtere Tage. (Ohne Harten kein Leben.)"

Das Nachdenken über Sex fließt ständig in alle Lebenssituationen ein. Mit dem Charme des Direkten wird das Bild von Jugendlichen gezeichnet, für die "Schwänze", das "Stechen" und der "Puff in der Lupinenstraße" ein funktionierender Sprachcode innerhalb menschlicher Beziehungen darstellt. Der Sex-Jargon könnte ziel- oder irreführend sein: Es wird nicht klar, ob es den Jungs tatsächlich nur um das Eine geht, oder ob etwas anderes, viel Wesentlicheres nur nicht genannt werden kann. Große Gefühle werden nicht mehr gesagt - höchstens inszeniert - und auch das scheitert: Mit einem Anflug von Romantik will Martin Anne "zum Meer" bringen. Damit meint er allerdings nur ein nach Salzwasser riechendes Industriegebiet. Der symbolische Charakter dieser Aktion kann von Anne nicht ertragen werden - sie ignoriert die Inszenierung - und sie lässt sich schnell zurückbringen. So resümiert Martin: "Wenn diese Episode auch nicht von Erfolg gesegnet war, so ist sie doch ein schönes Beispiel für die Wirkungslosigkeit der Fantasie im besonderen und im allgemeinen. Dies zu behaupten ist nun keineswegs widersprüchlich, da laberlaberlaber." Gedankensprung. Wird Martin etwas gefragt, hat er meist nicht nur eine Antwort, sondern viele: eine witzige, eine sexistische, eine pseudo-moralische etc. Aber alle diese Antworten werden nur nebeneinander gedacht. Was Martin dann tatsächlich antwortet, geht oft daneben und liegt nur manchmal richtig. Dieses 'Mal-so-mal-so' wird in der Beziehungskonstellation der drei Freunde reflektiert: Während für Richard alle Werte klar definiert sind, mehr noch: von ihm selbst gesetzt werden, erscheint Thomas als der tragische Verweigerer in widerwilliger Komik. Martin steht als "Normalo" genau dazwischen, wiederum im Zwiespalt mit sich selbst, eigentlich gar nicht so normal sein zu wollen, aber doch die eigenen Probleme selbständig lösen zu können. So kommt Martin zu dem Schluss: "Über Normalos schreibt kein Mensch. Bloß weil die sich anstrengen, ein wenig nachdenken und ihre Probleme selbst lösen." Tragik der Langeweile durch zu viel Nachdenken. Die ungewöhnlichen Geschehnisse passieren am Rande. Dass der "große Oggersheimer" direkt nebenan wohnt und die ganze Nachbarschaft vom Bundesgrenzschutz bewacht wird, hat weniger Bedeutung als die Sportbegeisterung des Vaters. Unglückliche Zufälle, flüchtige Begegnungen und vermeidbare Fehler mit weitreichenden Konsequenzen bestimmen den Handlungsverlauf.

Peter Renners "Griff in die Luft" ist nicht witzig, eher ein wenig melancholisch. Gedankensprünge lösen sich zufällig erst viel später auf und manchmal auch nie. Renners Roman ist kein Teil der ironisierenden und sich trotzdem selbst feierndem Popliteratur. Der Alltag wird nicht mehr selbstherrlich verklärt, sondern ernüchtert. Normalität im irreal empfundenen Schatten großer Ereignisse erscheint als das Kennzeichen der 80er Jahre.

Titelbild

Peter Renner: Griff in die Luft. Roman.
dtv Verlag, München 2003.
296 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3423243538

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