Jesus ist kein Fußballspieler

Friedrich Christian Delius' Hörspiel "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde"

Von Sabine teHeesenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine teHeesen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Wunder von Bern" - die bundesdeutsche Mannschaft durfte 1954 zum ersten Mal an der Fußballweltmeisterschaft teilnehmen. Sie galt als Außenseiter, doch gewann wider Erwarten das Endspiel in Bern gegen die als unschlagbar geltende ungarische Nationalelf. Dies ist das Ereignis, um das Delius' neuer Roman "Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde" kreist.

Ein Pfarrerssohn, der in der Enge eines hessischen Dorfes und eines protestantischen Haushaltes aufwächst, erlebt den Tag des Endspiels zunächst als einen ganz gewöhnlichen Sonntag mit allen Verpflichtungen und Zwängen. Der Elfjährige ("zu alt für Märchen, zu jung für Mädchen") durchlebt keine leichte Lebensphase. Gepeinigt von Schuppenflechten und Stottern, schlecht in der (Kloster-)Schule, vermag der Junge keine Hilfestellungen in der christlich-protestantischen Welt seiner Familie zu finden. Jesus ist kein Siegertyp: Er hängt tot am Kreuz und - obwohl sich dieser Gedanke für einen Pfarrerssohn verbietet - vermag er es nicht, Antworten auf die dringlichen Fragen zu geben. Bibelzitate taugen nicht als Wegweiser, vielmehr scheint das Stottern eine Strafe Gottes zu sein und belastet nicht nur die Selbstsicherheit, sondern auch das Gewissen. Das kirchliche Umfeld erstickt den Jungen, und so kapituliert er angesichts der Enge. "Ich habe keine Chance vor diesem Gott."

Der Blick des Jugendlichen ist stellvertretend für jenen der jungen Republik, die sich nach dem Krieg neu definieren muss und Altlasten mitträgt, die sie nicht einfach abwerfen kann. Die dörfliche Struktur hat sich nicht verändert und doch gibt es Fremdes innerhalb des Bekannten. Die alten Vorbilder müssen abgelegt werden, da sie nicht die Erlösung bringen.

Den vergangenen Krieg erlebt der Junge durch die Erinnerungen seiner Umgebung. Er trägt die empfangenen Zerrbilder weiter, mischt sie mit seiner eigenen Entfremdung von der christlichen Welt und findet sich wieder in kuscheligen Alltäglichkeiten, wie etwa der Erinnerung an eine Heuernte auf dem Land - geradezu das Klischee einer Idylle. Die Gewissheit, im besseren Teil der Welt zu wohnen, wird gespeist durch die Selbstgefälligkeit der Erwachsenen.

Den Höhepunkt des Tages - und wie es scheint der Höhepunkt seines jungen Lebens - stellt die Radioübertragung des Endspiels dar, die er unter höchsten Auflagen der Gewährung von Mittagsruhe im Arbeitszimmer seines Vaters hören darf. In diesem Zimmer ("Wenn die zehn Gebote galten, dann hier, in diesem Raum!") regiert die Macht des Vaters, der in der Gemeinde das Sagen hat, hier gibt es zahlreiche christliche Bilder an den Wänden, unter anderem eines von Mose, der die zehn Gebote empfängt vom unbarmherzigen Gott des Alten Testaments. Diese Strenge durchbricht die Radioübertragung, die den Jungen im Laufe der Zeit von seinen Beklemmungen löst. Er identifiziert sich mit den Spielern, die als Außenseiter angetreten sind, doch im Laufe des Spiels zu Siegern werden. Der Moderator Herbert Zimmermann hüllt das Geschehen auf dem Fußballplatz in christliche Metaphern. Von Fußballgöttern ist da die Rede. Diese lebendigen Götter sind eine Konkurrenz zu dem christlichen Glauben und daher lauscht der Pfarrerssohn mit einer Mischung aus schlechten Gewissen und überschwänglicher Begeisterung. ("Es schien als sei alles, was mich blockierte, gelockert.") In der Halbzeit vermag er sogar seinem an Fußball nicht interessierten Vater das konsonantisch so schwierige Zwischenergebnis ohne Stottern mitzuteilen: "Zwei zu Zwei". Mit dem Zuhören, der Anerkennung der Außenseiterposition - seiner und der seiner Welt - gewinnt er einen Ausweg aus der protestantischen Enge. Er lauscht der Übertragung der Siegesfeier, in der die begeisterten Deutschen ein kurz zuvor erlassenes Gesetz brechen: Sie singen die erste Strophe der Nationalhymne. Der Siegestaumel des durch das Spiel kurierten Nachkriegsdeutschland überdeckt zahlreiche Ängste und Hemmungen. Der patriotische Überschwang nach dem Sieg ist fragwürdig.

Dies alles erzählt Delius einfach wunderbar. Das Fiebern um den Ballbesitz, das Torejagen ist sehr gut eingefangen, die Handlung ist schlüssig, glaubwürdig in Worte gefasst, der Protagonist eine überzeugende Figur.

Diesen Roman als Hörbuch zu bearbeiten ist eine hervorragende Idee, denn sie greift als akustisches Erlebnis die legendäre Radioübertragung des Endspiels auf, moderiert von Heinrich Zimmermann. Gelesen wird die Geschichte von Peter Lohmeyer, mitunter stört der sehr nasale Unterton seiner Stimme, und eine etwas bessere Sprechqualität wäre wünschenswert. Knapp drei Stunden Spielzeit hat das Hörbuch, einfach eine sehr schön verbrachte Zeit.

Titelbild

Friedrich Christian Delius: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde. CD.
Hörbuch Hamburg Verlag, Hamburg 2002.
200 min, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3899030591

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