Ohne sie hätte niemand von uns überlebt
Richard Newman korrigiert in einer grundlegenden Biographie Fania Fénelons Zerrbild von Alma Rosé
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls Anfang der 80er Jahre Fania Fénelons Buch über das - wie es im Titel heißt - "Mädchenorchester" von Auschwitz erschien, rief das Werk der seinerzeitigen Sängerin unter anderen noch lebenden Mitgliedern des Orchesters heftige Reaktionen hervor. Widerspruch erfuhr vor allem die negative Darstellung der Jüdin Alma Rosé, die von August 1943 bis zu ihrem Tod im April 1944 das Lagerorchester leitete. Anita Lasker-Wallfisch, die von Oktober 1943 bis zur Befreiung das Cello spielte und 1997 selbst ein Buch über das Lagerorchester veröffentlichte, wirft Fénelon nicht nur "grobe Verleumdungen" vor, sondern bezichtigt sie, "ihre eigene Rolle mit der Rolle Almas vertauscht" zu haben. Rosé war "streng, gerecht, niemals unterwürfig und unbeirrbar, sich und uns - allem zum Trotz - nicht entwürdigen zu lassen", so Lasker-Wallfisch. Und: "Ohne sie hätte niemand von uns überlebt."
Alma Rosé, Tochter des seinerzeit weithin bekannten und verehrten Musikers Arnold Rosé und Nichte Gustav Mahlers, selbst Geigenvirtuosin und als spätere Insassin des KZ Birkenau Leiterin des dortigen Lagerorchesters, ist nun eine Biographie gewidmet. Der Autor, Richard Newman, hat sich einige Jahrzehnte auf Quellensuche begeben und zahlreiche Briefe und andere Dokumente ausfindig gemacht. Alma Rosés Briefe, so Newman, lassen eine Frau hervortreten, die "emanzipiert und willensstark, empfindsam, stolz, schlagfertig, stimmungslabil, kultiviert, Familie und Freunden leidenschaftlich zugetan und kompromisslos im Verfolgen musikalischer Ideale" war. Eine Charakterisierung, die durch die 33 in den Text integrierten Briefe an ihren Bruder Alfred, fraglos bestätigt wird. Doch hat Newman nicht nur ein gründliches Archivalienstudium betrieben, sondern zudem mit Dutzenden von Zeitzeugen gesprochen, insbesondere mit den überlebenden Musikerinnen des Lagerorchesters. So ist ein Bild von Alma Rosé entstanden, das es, wie Lasker-Wallfisch im Vorort bemerkt, erlaubt, sie "nicht nur in Zusammenhang mit Auschwitz zu erleben, sondern als normalen Menschen".
1906, als Alma Rosé in Wien geboren wurde, strahlte die Stadt in einem kulturellen Flair, das nicht zuletzt von den Beiträgen jüdischer Schriftsteller und Künstler wie Hugo von Hofmannsthal und Max Reinhard lebte und von Sigmund Freuds Psychoanalyse geprägt war. Dennoch war ein latenter Antisemitismus als "ständige Unterströmung" stets gegenwärtig. Verkörpert wurde er nicht zuletzt durch den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, den Hitler noch zwanzig Jahre später in "Mein Kampf" als Vorbild nennen sollte. Alma Rosé wuchs hingegen in einer Familie auf, in der die Auffassung vom Judentum als Rasse als "lächerlich" galt und man "wenig auf ihre jüdische Abstammung gab". Als Tochter eine berühmten Musikers ging Alma Rosé schon als Kind nicht nur wie selbstverständlich in Konzerthäusern ein und aus, sondern übte täglich etliche Stunden das Klavier- und Violinspiel. Ihr Debüt wurde wenige Wochen nach ihrem 20. Geburtstag, Newmans Berichten zufolge, vom Publikum allerdings nur "lauwarm" aufgenommen. Die Rezensenten urteilten, ihr Talent sei noch "unreif". Davon, wie ihr Spiel wenige Jahre später klang, kann man sich noch heute anhand einer Aufnahme selbst überzeugen. Zusammen mit ihrem Vater ist sie auf der CD "Arnold Rosé and the Rosé String Quartet" zu hören. Gemeinsam spielen sie Bachs Doppelviolin-Konzert, Alma Rosés einzig heute bekannte Aufnahme.
Nach ihrer Heirat mit dem Geigenvirtuosen Váša Príhoda im Jahre 1930 gab sie ihre eigene Karriere vorübergehend auf, gründete jedoch zwei Jahre später das Frauenorchester "Wiener Walzermädeln", von dem kein geringerer als Ernst Krenek urteilte, dass sein Repertoire "zu großen Teilen über die populäre Alltagskost sogenannter Gebrauchsmusik hinausging". Gleichwohl wurde Alma Rosé von der Presse kaum als selbstständige Musikerin anerkannt, sondern stets nur als "Rosés hochbegabte Tochter" wahrgenommen.
Ihre Ehe mit Príhoda darf wohl kaum als glücklich bezeichnet werden und wurde durch seine Eifersuchtsanfälle stark belastet. So beschimpfte er sie stundenlang als "lüsternes Luder", weil sie es einem Bewunderer auf einem Empfang gestattet hatte, ihr die Handinnenfläche zu küssen und nicht, wie es die Etikette verlangt, den Handrücken. Nach wenigen Jahren ließ Príhoda sich scheiden. Seine Familienangehörigen zögerten nicht, ihr die Schuld daran zu geben, denn sie habe seinem "Ideal einer sorgenden Hausfrau" nicht entsprochen, sondern immer "überlebensgroß und auf Tournee" sein wollen. Seine eigenen Tourneen standen natürlich nicht zur Debatte, und dass Príhodas verfehltes Frauenideal am Scheitern der Ehe schuld sein könne, auf diese Idee ist selbstverständlich niemand gekommen. Die spärlichen Beziehungen, die Alma Rosé später noch zu Männern fand, wie etwa zu Heinrich Salzer, verliefen nicht glücklicher. Sicherlich klagte ihr Vater in einem Brief an ihren Bruder Alfred zu Recht, dass sie mit Männern "nur Pech" hatte. Wie sehr sie darunter litt, von ihren Geliebten, die sie auch als Kameraden betrachtete, immer wieder im Stich gelassen zu werden, findet indirekt in den Briefen an ihren Bruder Ausdruck. Mehrfach betont sie, wie glücklich er doch sei, dass er in seiner Frau eine Kameradin habe: "Dann ist der ganze Kampf ums Leben leichter".
Nachdem die Nazis in Deutschland die Macht ergriffen hatten, wurden Alma Rosés Möglichkeiten, auf Tournee zu gehen, von Jahr zu Jahr stärker beschnitten. An Auftritte in Deutschland war schon bald nicht mehr zu denken, und in den Jahren 1936/37 musste sie ihre Auslands-Konzerte auf die Schweiz, die Tschechoslowakei und auf Norditalien beschränken. Nach dem Anschluss Österreichs am 12. März 1938 erhielten jüdische Musiker auch hier keine Engagements mehr, und bald waren ihnen öffentliche Auftritte überhaupt untersagt. Alma Rosé, ihr Vater und ihr Bruder, die ebenso sehr für die Musik wie von der Musik lebten, verloren somit über Nacht ihren Lebensunterhalt. 1939 flohen Alma und ihr Vater nach England, ihr Bruder gelangte in die USA. Um für sich und ihren Vater sorgen zu können, nahm Alma Rosé, deren Reisefreiheit und -sicherheit von ihrem durch die Heirat mit Príhoda erlangten tschechischen Pass abhingen, bald darauf Angebote in Holland an. Mit der tschechische Kapitulation vor den Forderungen der Nazis am 15. März1939 wurde ihr Pass nutzlos. In den Tagen vor dem 2. Mai 1940 bedrängten Freunde Alma Rosé, nach England zurückzukehren, da an diesem Tag ihre britische Rückkehrgenehmigung ihre Gültigkeit verlor. Doch durch ihre neue Karriere sorglos geworden und aufgrund ihres übermächtigen Wunsches, ihren Vater finanziell versorgen zu können, blieb sie in Holland. "Es ist gemütlich hier", soll sie auf die Ratschläge und Warnungen der Freunde geantwortet haben. Schon eine Woche später überfiel Nazi-Deutschland Holland, das nach weiteren fünf Tage kapitulieren musste. Nun war ihr der Rückweg versperrt. Am 10. Dezember des gleichen Jahres wurde sie als Jüdin klassifiziert - und ein rotes "J" wurde in ihren neuen Ausweis gestempelt. Doch den Judenstern zu tragen, wozu die Nazis ab Mai 1942 die Juden auch in Holland verpflichteten, weigerte sie sich. Nachdem sich ihre Hoffnungen zerschlagen hatten, doch noch auf legalem Wege in die USA zu gelangen, unternahm sie einen Fluchtversuch in die Schweiz, bei dem sie am 19. Dezember 1942 aufgrund von Verrat verhaftet wurde.
Am 18. Juli 1943 erfolgte der Transport nach Birkenau. Alma Rosé wurde in den berüchtigten Block 10 eingeliefert, dem "Experimentierblock" Josef Mengeles. Im Angesicht des Todes äußerte sie als letzten Wunsch, noch einmal Geige spielen zu dürfen. Ohne dass sie das wissen konnte, rettete diese Bitte sie vor den tödlichen Menschenexperimenten. Denn da das Männer-KZ in Auschwitz über ein Orchester verfügte, hatte Maria Mandel, die ebenso mörderische wie ehrgeizige Leiterin des KZ Birkenau, aus Gründen ihres persönlichen Prestiges, ein Frauenorchester befohlen, das allerdings, wie Newman schreibt, zu dem Zeitpunkt, als Alma Rosé in Birkenau eintraf, "aus Mangel an musikalischer Leitung nur noch vor sich hin kümmerte". Nachdem Rosé erst einmal vorgespielt hatte, dauerte es nicht mehr lange, bis sie in den Musikblock kam. Dort wurde sie im August des gleichen Jahres zum Kapo und zur Dirigentin des Lagerorchesters. "Kein Dirigent der Welt ist je mit einer gewaltigeren Aufgabe konfrontiert worden", bemerkte Helen Spitzer-Tischauer, die im Frauenorchester Mandoline gespielt hatte, später lakonisch. Ungeachtet der Lebensgefahr, der sie sich damit aussetzte, nahm Rosé zahlreiche Jüdinnen in die Kapelle auf, die von der SS eigentlich als 'arisches' Projekt gedacht war. Rosé war eine strenge Orchesterleiterin, die bei den Proben nicht nur den Taktstock nach einer Frau werfen konnte, wenn diese falsch spielte, sondern sie auch stundenlang den Fußboden der Baracke putzen ließ. "Wenn wir nicht gut spielen", sagte sie, "kommen wir ins Gas". Nach zahlreichen Zeugnissen von den überlebenden Mitgliedern des Frauenorchesters war ihr Kommando, "bei allen Schrecken der Gefangenschaft" in Birkenau "das beste im Lager". Und um noch einmal Anita Lasker-Wallfisch zu zitieren: "Wer von uns überlebte, verdankt es ihr. Sie war eine stolze Frau - würdevoll und unnahbar." Am 5. April 1944 ist Alma Rosé in Birkenau gestorben. Drei Tage zuvor war sie an Botulismus erkrankt.
"Die Welt draußen hat es nie vermocht, die Tiefe der Verzweiflung zu ermessen, die die Orchesterfrauen durchschritten, noch die Größe ihres einzigartig glücklichen Geschicks", heißt es an einer Stelle in Newmans Buch. Daran werden auch Bücher wie das vorliegende oder Anita Lasker-Wallfischs "Ihr sollt die Wahrheit erben" (1997) nichts ändern können. Dennoch sind solche Bücher zweifellos von unschätzbarem Wert.