Simplismus mit freien Koloraturen

Jean-François Lyotard denkt nicht für Kinder und malt nicht für Erwachsene

Von Viktor SchlawenzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Viktor Schlawenz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um nichts anderes als "um die Anwendung einer Reihe äußerst einfacher Grundsätze, die jedes Kind weiß", gehe es in der Philosophie, sagt Wittgenstein in den "Philosophischen Bemerkungen" von 1929/30, "die - enorme - Schwierigkeit" sei nur, diese Grundsätze "in der Verwirrung, die unsere Sprache schafft", auch anzuwenden.

Ist die Philosophie also ein im Grunde einfaches Geschäft, sind ihre Fragen im Prinzip simpel und besteht das Problem der Philosophie bloß in ihrer Vermittlung? Wo immer versucht wird, Kindern Philosophie nahezubringen, steht allem Anfang ein besonderes Vermittlungsproblem im Wege: Kinder sind in besonderer Weise lernfähig, sie lernen spielerisch-lustvoll, aber nicht systematisch. Begriffliches Denken und Abstraktionsvermögen sind untrainiert, Sprache steht noch in der Pflicht konkreter Weltvermittlung.

Wissen läßt sich nicht beliebig simplifizieren, vieles ist quasi voraussetzungslos nicht mehr vermittelbar: Jostein Gaarders philosophiegeschichtlicher Roman "Sophies Welt" oder Stephen Hawkings "Kurze Geschichte der Zeit" sind Belege dafür, dass der 'Simplismus' Verständlichkeit nur suggeriert, tatsächlich aber in unauflösbare Aporien führt. Ein Beleg dafür ist auch Jean-François Lyotards Buch "Postmoderne für Kinder", ein Titel von 1986, der vermutlich ironisch gemeint war. Denn Lyotards Denken hat sich von jeher gegen Vereinfachungen gewandt. Seine Beiträge zu den philosophischen Postmoderne-Debatten der vergangenen zwanzig Jahre (bis zu seinem Tod im April 1998) haben einen entschiedenen "Widerstand gegen den Simplismus" erkennen lassen: Das Verlangen nach Klarheit und Leichtigkeit sei ebenso "barbarisch und reaktionär" wie die "Vereinfachung" selbst.

In Briefen an Kinder und Jugendliche aus dem Freundes- und Bekanntenkreis will Lyotard die zentralen Gedanken seiner Philosophie und seines wohl bekanntesten Werkes ("Das postmoderne Wissen", 1979) erläutert haben. Die Briefe sollen aus den Jahren 1982 bis 1985 stammen. Das ist schwer zu glauben, denn natürlich ist Lyotard kein Autor für Kinder: Seit Anfang der 70er Jahre beschreibt er das postmoderne Wissen als heterogene Wissensmenge, die sich stochastisch, diskontinuierlich und kontingent zu Einzeldisziplinen aufgefächert habe, zu einem "Ensemble methodenloser, geschichtenerzählender und ideenproduzierender Spiele" (Gottfried Schwarz). Und dabei handelt es sich nicht um Spiele für Kinder, auch nicht um "Geschichten", "Fabeln" oder gar "Märchen", die spielerisch und ohne besondere Vorkenntnisse Wissen vermitteln wollten und ohne Kenntnis der jeweiligen Diskursregeln verstanden werden könnten.

Klarheit ist nie Lyotards Stärke und auch nie sein Ehrgeiz gewesen. Seine Hommàge an den Maler Karel Appel macht dies erneut deutlich. Dennoch kann man sich seiner Auseinandersetzung mit den Bildern des 1921 in Amsterdam geborenen Künstlers den Respekt nicht entziehen. Appel lebt und arbeitet in New York und in der Toscana, er war neben Asger Jorn Mitbegründer der Künstlergruppe CoBrA (1948 - 1951), und er hat es immer wieder verstanden, bedeutende Intellektuelle zur Auseinandersetzung mit seinem Werk zu bewegen. Appels Malerei hat einen expressiven Gestus, neigte anfangs zur Abstraktion und freien Gestik ("Bäume", 1945), läßt aber auch konkrete Figurationen und Mischgestalten zu ("Erstaunen", 1980). Die Titelgebung könnte bisweilen von Lyotard inspiriert sein ("Barbarischer Akt", 1957). Die Farbwahl ist expressiv, ungebärdig, leuchtend, intensiv, wirkt pastos und großzügig aufgetragen, fast wie von Kinderhand gemalt. Der Maler, der mit seinem "Psychopathologischen Tagebuch", bestehend aus Zeichnungen und Gouachen aus der CoBrA-Zeit, ein bedeutendes Werk europäischer Kunst geschaffen hat, zitiert gern auch Klassiker der Moderne: Sein Bild "Fragende Kinder" (1949) ist eine Hommàge an Paul Klee, seine "Farbenfreudige Katze" (von 1978) ist eine fast ›choc‹-hafte Sensation und ohne Van Gogh nicht denkbar.

Appel ist ebenso postmoderner Maler, wie Lyotard postmoderner Denker ist. Seine Bilder haben Zitatcharakter, sie spielen virtuos mit epochemachenden Stilrichtungen der Moderne. Lyotards Essay zu Appels Bildern kann weniger als Erläuterung verstanden werden, vielmehr hingegen als eigener "Gesang", der zu freien Koloraturen findet, zu "emotionalen Gemeinschaften" wie zu "potentiellen Assoziationen", die der Rhetorik der Bildersprache die Rhetorik postmodernen Philosophierens entgegensetzen. Die Kraft des Erscheinens, die das Werk in sich trägt, wird hier nicht auf die Form seiner Erscheinung reduziert. Um den Preis dieser Sinnlichkeit wagt Lyotard einen Kommentar, der der Keuschheit der Farbe würdig ist.

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Jean-Francois Lyotard: Postmoderne für Kinder.
Passagen Verlag, Wien 1996.
137 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3851652525

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Titelbild

Jean-Francois Lyotard: Karel Appel: Ein Farbgestus.
Verlag Gachnang & Springer, Bern 1998.
184 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3906127532

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