Die eigene Existenz überschreiten

Ernst Augustins furioser Sommerroman "Die Schule der Nackten"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Freibad in München. Ein stabiler, bairisch-blauer Himmel spannt sich über Deutschlands schönste Metropole. Unermüdlich erleuchtet die Sonne die Sinne und Herzen der Münchener und bräunt ihre gewaltigen Leiber: die großflächigen Bäuche, die im schweren Schritt ausschreitenden Schenkel und die im Gegentakt schaukelnden Brüste. Man ist noch satt vom zweiten Frühstück, man freut sich bereits auf den schattigen Stammplatz im abendlichen Biergarten, man inspiziert den sanft geröteten Spann der eben noch käsigen Füße und cremt sich mit Leidenschaft die Schulter-Hals-Partien ein. Nur wo die Badekleidung sitzt, bleibt man jungfräulich weiß - ein scharfer Strich trennt das bedeckte vom unbedeckten Fleisch.

Ein solcher Strich, scharf und gerade, trennt auch das Bade- vom Nacktbadegelände. Ein Bretterzaun erhebt sich da, wo es hinüber geht, und nur eine schmale Lücke dient als Schleuse. Die Scham hat Alexander bislang gehindert, die Seiten zu wechseln und unter die Nackten zu treten. Die Scham, aber auch eine Unmöglichkeit, da der "Zugang nur ohne Kleidung gestattet" ist. Wie soll das aber gehen, wenn auf dem Badegelände Badekleidung, auf dem Nacktbadegelände Nacktheit vorgeschrieben ist und dazwischen nur ein Bretterzaun steht, aber keine Umkleide, kein Raum, sich der Kleidung zu entledigen?

Der uns das erzählt, ist ein Anfänger, aber auch ein Eroberer: Sein Name, Alexander, ist Programm, und mit dem Ausruf "Thalatta, thalatta - das Meer, das Meer" durchschreitet er die Lücke im Zaun und erobert sich einen Platz am Pool:

"Zweihundert Augen waren auf mich gerichtet. Ich zog sofort meine Hose herunter, gleich neben dem Eingang, stieg aus der Hose und behielt sie in der Hand, stand da mit nichts, nicht einmal einer Sonnenbräune bekleidet, und glaubte es eigentlich nicht.
Heute weiß ich, daß die zweihundert Augen völlig blicklos waren, da sie, gegen die Sonne gerichtet, mich, der ich mit der Sonne hereinkam, höchstens als Umriß wahrnahmen. [...]. Zum damaligen Zeitpunkt aber fühlte ich mich im Mittelpunkt des Gesamtgeschehens, seziert, analysiert, ausgeweidet und gevierteilt: Wenn es in diesem unserem Universum ein Zentrum, einen Brennpunkt, einen absoluten Fokus gegeben haben sollte, dann war es mein dort unten befindliches, einsam hängendes Genital.
Und das Ganze im Stehen."

Ernst Augustin, Jahrgang 1927, hat er bisher acht Romane vorgelegt. "Schule der Nackten" ist sein neunter. Und wie jeder seiner Romane bedeutet auch dieser ungetrübte, zutiefst empfundene, jeden Zipfel des Lesers ergreifende Leselust.

Jeden Zipfel? In erotischer Hinsicht ist das Freikörpergelände unergiebig - denn wo alle nackt sind und wo die Sonne erbarmungslos herniederbrennt, da fehlt es am Gefälle, um den Eros zu stimulieren, an den Stoffen, die mehr enthüllen als verbergen, an der Möglichkeit, sich vor den Blicken der anderen zurückzuziehen.

Bald hat Alexander in einer Gruppe alter, faltiger Damen seinen Stammplatz gefunden - und so, unbeschwert, könnte der Sommer seinem Ende entgegengehen. Doch dann tritt, buchstäblich aus heiterem Himmel, die Frau schlechthin in sein Leben:

"'Kennen wir uns nicht?' - - - Wir kannten uns tatsächlich, aber das war sehr lange her, sie sagte später einmal zu mir, ich hätte in diesem Moment wie ein armes Tier ausgesehen, ein Reh im Scheinwerfer."

Ein Liebesroman also? Gewiss - und mehr als das: Er umfasst wie jedes der Bücher Ernst Augustins das ganz und gar Spektakuläre der Existenz: Ob er den Lebenstraum eines kleinen Jungen schildert, der seine Abenteuerlektüren im Kopf verwirklicht, ob er von Mahmud erzählt, dem sagenhaften afghanisch-indischen Wüstensohn und Großmogul, der von einer Löwin aufgezogen wird, oder von dem kleinen Schrotthändler Bannister, der in gewisser Weise zaubern kann - sie alle folgen den launigen Wendungen ihres Schicksals und den Offenbarungen ihres Erzählers, und selbst gestandene Helden werden so wieder zu Neophyten.

Alexander, der Gelehrte, der sich gewöhnlich hinter Büchern verschanzt und frühhistorische Studien treibt, wird von dieser Liebe mit solcher Wucht erfasst, dass jede Faser seiner Existenz betroffen ist. Und Juliane, die 'schönhüftige' Frau Anfang dreißig, die so unverhofft und quasi 'verspätet' - jung, modern, unabhängig, mit einer Schwäche fürs Esoterische, von Beruf Heilgymnastin - vor ihn hintritt, verkörpert geradezu das archaische Prinzip der Liebe:

"Da lag ich mit der Schönen, erzählte ihr die unglaublichsten Geschichten, konnte nur hoffen, daß niemand zuhörte. Zum Beispiel breitete ich ein gewaltiges Panorama aus, in dem wir uns bereits vor dreitausend Jahren geliebt hätten, in den Gärten von Ninife, vor zweitausend Jahren auch, im sumerischen Aleppo [...].
Vor tausend Jahren?
Vor tausend Jahren auch."

Eine archetypische Liebe also, eine Liebe der ewigen Wiederkunft, voller Vertrauen in die Gabe, sich nach langer Zeit erneut zu begegnen und einander im emphatischen und durchaus biblischen Sinne zu erkennen. "Es gibt eine Erinnerung in mir", so Alexander, "die eigentlich keine Erinnerung ist, weil ich niemals dort gewesen sein kann. Trotzdem sehe ich den Strand vor mir, jedes Steinchen, jedes angeschwemmte Stückchen Holz." Die ebenso rätselhafte wie paradoxe Formulierung wird begleitet von einer tief in die Vergangenheit zurückführenden Erzählung von einem früheren Leben mit Sita, der Schönhüftigen. Alexander imaginiert hier Erfahrungen, die seine eigene Existenz überschreiten, die mehr als ein Lebensalter zurückliegen, und die ihm dennoch in frischen, intensiven Farben vor Augen stehen.

Damals waren Gautama und Sita ein Paar, und Sita geriet unter den schlechten Einfluss von Budha Ratnor, einem Mönch zweifelhafter Herkunft, der die Frauen des Dorfes verführte und sie ihren Männern entfremdete. Heuer, tausend Jahre später, im München der Gegenwart, haben sich zwar die Zeiten verschoben und die Verhältnisse geändert - doch die Konstellation ist gleichgeblieben: Alexander muss um Juliane, die in die Fänge von Pradhi Rama, dem Guru eines Tantra-Ordens, geraten ist, kämpfen, und er tut dies im Wissen um eine kollektive Erfahrung, die er aus der "Gesamtexistenz" der Menschheit bezieht.

Was wie ein leichtes, heiteres Sommerstück begann, bekommt plötzlich einen erzählerischen Ernst, als sei C. G. Jungs Archetypenlehre in ein modernes und durchaus grausames Märchen übersetzt worden. Und glaubte man anfangs, es erginge Alexander und Juliane wie den Königskindern aus der bekannten Ballade, die nicht zusammenkommen können - so gewinnt man bald Vertrauen in die Kraft des Unbewussten, sich von den existenziellen Schatten der Vergangenheit zu befreien. Alexanders Liebesgeflüster und Liebesgeflunker wird im besten Sinne tief und deutsch, die kleine, abgezirkelte Fläche des Freikörpergeländes bekommt Raum und Horizont, die Vorgeschichte Farbe und Bedeutung.

Darf man auch nur eine Maß verwetten auf diese Liebe in diesem exotischen München zur Unzeit und Sommerszeit? Unbedingt. Ernst Augustin - das kann nicht nachdrücklich genug beglaubigt werden - ist als Erzähler ein Zauberer. Wer ihn liest, wird innerlich reicher. Und wer dann aufschaut am Ende und in die Sonne blinzelt, die so bedächtig weitergewandert ist und den Himmel weit aufgespannt hat, wer dann das gewaltige Dröhnen der Kirchturmglocken wieder hört, das erregende Brausen der Badenden oder den heimischen Dialekt der Nackerten - der hat die Einsamkeit der Haut überwunden und ist auch innerlich erglüht, voller Respekt für diese poetische "Schule der Nackten". Jeder sollte sie durchlaufen!

Titelbild

Ernst Augustin: Die Schule der Nackten. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
255 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406509681

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