Postmoderne Ästhetik des Mehrdeutigen

Detektive, Leser und Literaturwissenschaftler auf der vergeblichen Suche nach Wahrheit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ebenso wie literarische DetektivInnen spüren auch LiteraturkritikerInnen und -wissenschaftlerInnen der Wahrheit nach - so Alida Bremer in ihrer Untersuchung "Kriminalistische Dekonstruktion", einer Studie zur "Poetik der postmodernen Kriminalromane". Daher könnten LiteraturkritikerInnen die Vorgehensweise der DetektivInnen besonders gut nachvollziehen, verstehen sich doch beide auf die kreative "Kunst des Spurenlesens", die ihnen verschiedene Interpretationen der Ereignisse und der Texte ermöglichen. Beide rekonstruieren das "Unerzählte" und befinden sich auf der Suche nach dem "Verborgenen hinter den Zeichen". Bis sie sich schließlich für "eine Interpretation" entscheiden. Der "gescheiterte Detektiv" postmoderner Anti-Kriminalromane ähnelt wiederum dem "poststrukturalistischen Kritiker", führt die Autorin ihre Parallele fort. Beide favorisieren die "ambivalente Lektüre" vorgegebener Zeichen und beide versuchen, eine bestimmte Ordnung in den Hergang der Ereignisse und in die Bedeutung der Texte zu tragen. Da das "Gefühl der Verunsicherung" zum Merkzeichen unserer chaotischen Welt geworden ist, so die Autorin, ist die Detektei zu einer "bewußt hoffnungslose[n] Tätigkeit" geworden - und das gelte für die kriminalistische Arbeit des Detektivs im Roman ebenso wie für die Interpretationsarbeit der LiteraturwissenschaftlerIn.

Bremer ihrerseits erörtert zunächst für ihr Thema einschlägige literaturtheoretische Fragen, um sich dann dem Begriff des Kriminalromans historisch-kritisch zu nähern. Im Anschluss hieran kann sie ihr Augenmerk auf die Gattungsgeschichte lenken. Nach einem kurzen Hinweis auf die innovative Qualität der neuen Gattungspoetik des "Anti-Kriminalromans" wendet sie sich abschließend der Analyse exemplarischer Texte zu.

Feierte der konventionelle Kriminalroman "durch die Aufklärung eines Kriminalfalls die 'Aufklärung'", so mutiert er im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte immer mehr zu einer "Musterstruktur der postmodernen Literatur". Deren scheiternde Detektive vermitteln ein "Gefühl der Leere", da die Wahrheitssuche als eine "metaphysische Suche" verstanden wird, der oft die Antwort versagt bleibt. "Intertextualität und Metatextualität" werden zu einer "Ästhetik der Mehrdeutigkeit" gerade in einem Genre, in dem von Hause aus Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit tendiert. Den Terminus "Anti-Kriminalroman" wendet Bremer dabei auf literarische Texte an, die die "Variabilität" des Erzählschemas, das dem Kriminalroman üblicherweise eigen ist, als eine Herausforderung annehmen und zu dem sie neue Varianten entwickeln, die von der Autorin als "Erweiterung der Gattung" verstanden werden. Dabei folgt sie dem "einfachen Bedürfnis nach 'Ordnung'", gegen das die postmodernen Anti-Kriminalromane gerade polemisieren, wie sie nicht ohne sympathische Selbstironie eingesteht. Ihre These, die sie unter anderem anhand von Texten Paul Austers, Jorge Luis Borges', Peter Hoegs oder Mario Vargas Llosas belegt, lautet nun, dass "die Gattung in den Anti-Formen ihre Kontinuität" bewahrt. Daher möchte sie nicht schon dann von "Innovation" sprechen, wenn das "klassische Schema des Kriminalromans durchbrochen" wird. Zahlreiche, dem herkömmlichen Kriminalroman zugeordnete Strukturelemente finden auch im postmodernen "Anti-Kriminalroman" Anwendung: "Das Doppelgängermotiv, Doppel- und Mehrdeutigkeit der Zeichen (Spuren), die Welt des Romans als ein lesbarer Text (was auf die Welt übertragen wird), Autor/Täter-Leser/Detektiv-Verhältnis". Ebenso werden "sozialkritische Überlegungen zur Ungerechtigkeit, Korruption, Verbindung zwischen Politik und Verbrechen" aufgegriffen und fortgeführt, "aber auch die Rolle der Frau als Detektivin".

Den Kern aller Antidetektivromane macht die Autorin in einigen Sätzen Borges' aus. Borges schreibt, dass zu Beginn stets ein "unentwirrbarer Mord" stehe; sodann folge eine "langsame Diskussion" und schließlich "die Lösung". Wenn nun der Fall als aufgeklärt gelte, schließe sich jedoch ein "langer rückblickender Abschnitt" an, der zu verstehen gibt, dass die angebotene Lösung nicht stimmt. Es liege nun an den Lesenden, die 'echte' Lösung selbst zu finden. Bremer kommentiert Borges dahingehend, dass seine Beschreibung im "Rahmen der Poetik" des klassischen Detektivromans verbleibe, "nur daß bei Krimis dieser obligatorische rückblendende Teil mit der Lösung zusammenfällt, hier aber eine zweite Lösung ermöglicht, eine Wiederholung des Lesevorgangs, eine neue Zeichendeutung". Es liegen somit, und das ist das Entscheidende, "zwei Geschichten in einer vor, deren Entstehungen vom Standpunkt des Lesers - und nicht des Erzählers - abhängig sind."

Wenn der "Anti-Kriminalroman" resümierend zum "Paradigma der Postmoderne und der postmodernen Unsicherheit des Lesers" erhoben wird, dann wird ihm sicher zuviel der Ehre angetan. Doch eine "Musterstruktur der postmodernen Literatur" ist er allerdings, und das deutlich zu machen, ist Bremer gelungen.

Titelbild

Alidae Bremer: Kriminalistische Dekonstruktion. Zur Poetik postmoderner Kriminalromane.
Verlag Königshausen & Neumann, 1998.
ca. 262, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826015584

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