Fröhliche Auferstehung von der literarischen Metzgerei
Jules Vernes "Reise um die Welt in 80 Tagen" in einer Neuausgabe
Von Rolf-Bernhard Essig
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEigentlich hätte das Buch über viele Jahre hinweg "In 40 Tagen um die Welt" heißen müssen, und das nicht etwa, weil moderne Verkehrsmittel die für die Erdumrundung nötige Zeit verkürzt hätten, denn dann trüge es schon lange den Titel "In 40 Stunden um die Welt". Nein, es liegt an einer Praxis, der ähnlich Berühmte und viele Unbekannte schon seit vielen Jahrhunderten fast schutzlos ausgeliefert sind: In England nennt man die Tätigkeit "to bowdlerize", in Deutschland könnte man vom "Schmidtisieren" sprechen, und in Frankreich versteht man das Ding mindestens ebensogut: die literarische Metzgerei nämlich. Das ist: Romane, Dramen, Poesie nach Gutdünken zu zerlegen, zu entbeinen, zu verwursten, zu dehydrieren und trotzdem unter einem Markennamen als schieres Fleisch zu verkaufen. Mr. Bowdler schrieb Shakespeare einstens um, damit ihn auch höhere Töchter errötungslos lesen könnten, Euchar Schmid, seine Söhne und Enkel folgen bewusst oder unbewusst diesem Vorbild, indem sie Karl Mays Werke nach ihrer Idee von Mays Willen kürzten, umschrieben, erweiterten, andere Tendenzen unterschoben oder rearrangierten. Sie gingen sogar noch einen Schritt weiter als Bowdler, denn sie nahmen in die Reihe der "Gesammelten Werke" - die berühmt-brüchtigten grünen Bände - ein Werk auf, das gar nicht mehr von May stammte, sondern von einem Pfarrer verfasst wurde. Inzwischen gibt es immerhin im Karl-May-Verlag die schöne Idee der "Rückbearbeitung", die keineswegs einfach die ursprüngliche Fassung präsentiert (die gibt es in einer teuren, schätzbaren Faksimilefassung), sondern eine ihr mehr oder weniger weit angenäherte. Über solche - durch den Segen der Dichterwitwe und allerlei advokatische Winkelzüge abgesicherte und verbrämte - Misshandlungen von Mays Büchern wurde verschiedentlich schon geschrieben. Die ähnlich brutale Metzelei unter Jules Vernes Werken dagegen ist weniger bekannt.
Als ich beispielsweise 1977 die zwanzig Taschenbuchbände der Fischer-Ausgabe geschenkt bekam, meinte ich natürlich, "Die geheimnisvolle Insel", "Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren", "Reise zum Mond" oder "Die Kinder des Kapitän Grant" zu kennen, zumal die Holzstiche der Erstausgaben einen altehrwürdigen Charakter unterstrichen. Wie erstaunt war ich, als ich viele Jahre später mit einer Antiquarin über Michael Strogoff sprach und sie unbekannte Details erwähnte. Das war nicht auf mein schlechtes Gedächtnis zurückzuführen - ich war ja dem "Kurier des Zaren" immer wieder gern von Moskau nach Irkutsk gefolgt -, sondern auf die Folge gewaltiger Kürzungen, die gegenüber der vollständigen Diogenes-Ausgabe weit mehr als die Hälfte betrugen. Bei der "Reise zum Mittelpunkt der Erde" gönnt der S. Fischer Verlag dem Leser gegenüber der alten Ausgabe mit 141 in der aktuellen fast 200 (!) Seiten mehr. Das betrifft nicht nur Landschafts-, Städte- und Völkerbeschreibungen, das ging - so gefühlvoll gekürzt wurde - natürlich auch auf Kosten der Substanz. Wie bei Karl May aber gab es paradoxerweise auch Ergänzungen, durchaus humorig, nicht unpassend, meist aber doch vergröbernd. So erfanden die Bearbeiter Zweideutigkeiten, die dem Jungen verschlossen blieben. Doch der Erwachsene wunderte sich und sah nach: im Original kein Wort davon.
Die Praxis kann sich leider auf eine Tradition und auf den, allerdings missratenen, Sohn Jules Vernes berufen. Michel Verne war zeitlebens ein schwarzes Schaf, kaum jedoch deckte Erde den Papa, machte er sich über die erfolgreichen Bücher und mischte sich handgreiflich in sie ein, schrieb sogar - mit sachkundiger Hilfe - einen neuen Band, so dass 1906 ein Journalist des "Gil Blas" spottete: "So lange Jules Verne tot ist, wird er damit fortfahren, Bücher zu schreiben."
Tatsächlich blieb Jules Verne seit seinem Tod vor 98 Jahren erstaunlich lebendig. Viele Titel seiner Werke wurden sprichwörtlich, die Ausgaben, Bearbeitungen, Übersetzungen und Verfilmungen lassen sich tatsächlich kaum mehr überblicken. Dabei bietet er - der Wahrheit die Ehre - durchaus biedere Kost, die sich nicht nur in Details durchaus mit Karl May vergleichen lässt. Beide schrieben in enger Absprache mit ihren Verlegern und viele Bücher in zweckgebundenen Reihen, beide hatten eine starke pädagogische Ader, beide bedienten sich ausführlich bei Kollegen, Lexika, Forschungsberichten, Zeitschriften, beide schätzen Nationalstereotype als Mittel zu effizientem Erzählen und für simple Komik, beiden schließlich unterliefen während der raschen Produktion reihenweise Fehler, Ungenauigkeiten, Irrtümer.
Wohingegen Karl May den Ruch des Jugendbuchautors, der sich nach seinem Tod an ihn heftete, nie verlor, geriet Jules Verne nie in den Verdacht. Die Gründe für derlei Unterschiede liegen auf der Hand: der Franzose verwendete nie die Ich-Form, geriet dadurch nicht in Gefahr der sächsischen Phantastereien, er verfügte - obwohl auch er ja immer wieder Reisen beschrieb - über mehr Handlungsmodelle als Karl May, sein Erzählen hat mehr Schwung, vor allem aber verschafften ihm sein starkes Interesse für Technik, Naturwissenschaft, moderne Erfindungen und deren Grenzen Geletung als moderner Autor. Sein skeptischer Blick wurde dabei allerdings stets weniger beachtet als seine prophetische Gabe, die, wie das Nachwort der neuen Werkausgabe bei Winkler noch einmal klarstellt, durchweg auf intensivem Quellenstudium beruhte.
Bei einer solchen Gelegenheit stieß Verne auch auf den Plan, wie die Erde in nur achtzig Tagen zu umrunden sei. Sein Genie aber bestand darin, das Unternehmen mit einer Wette zu verbinden. Damit ergab sich die Dramatik, die das Buch zu einem idealen Filmstoff machte. Der Kampf gegen die Uhr verschärft den Kampf gegen die Zufälle, Schicksalsschläge, Gegner ungemein. Das ganze hätte gleichwohl ein witzloser Wettstreit werden können, wenn Verne nicht mit Inspektor Fix, Passepartout und Phileas Fogg, Esquire, eine Figurentrias um die Welt geschickt hätte, die in so einfacher wie wirksamer Charaktermechanik einander vorwärtstreiben. Volker Dehs weist in seinem klug-informativen Nachwort der Winklerausgabe natürlich darauf hin, dass Fogg wie Fix englischen Nationalstereotypen entsprechen, Passepartout hingegen als typischer Franzose firmiert. Wichtiger aber noch ist ihm die Tatsache, dass Jules Verne mit seinem erfolgreichsten Roman gerade nicht die Machbarkeit, sondern die Unwahrscheinlichkeit des Gelingens dieser Reise betont, dass er den spleenigen Engländer zwar als sympathisch schildert, ihn gleichwohl stark ironisiert darstellt. Da reist ein Uhrwerk, ein unerschütterlicher Gentleman, scheinbar gefühllos, ohne jedes Interesse für die Wunderwelt, die er durcheilt, voll ungerechtfertigtem Vertrauen in seine Planungssicherheit und Improvisationsgabe. Papagaienhaft betont er bei jedem Hindernis "alles einberechnet" - ob Witwenrettung, Seesturm oder Indianerüberfall. Doch im Griff hat er die Sach nie. Phileas Fogg, dessen nebulöse Person nur durch den Hinweis auf seine seemännische Fähigkeiten etwas mehr Kontur erhält, zeigt genau die Eigenschaften, die Offiziere der britischen Marine lernten: Kühnheit, Entscheidungsfreude, Improvisationstalent nebst einer gewissen Verachtung von detaillierter Vorbereitung. All das also, was Robert F. Scotts Südpolexpedition in den Tod führte, und auch Phileas Fogg mehr als einmal vor Probleme stellt, die zu lösen ihn unverhältnismäßig viel Geld und besondere Anstrengungen von Fortuna kosten. Heute, da "Im 80 Tagen um die Welt" Verlockung, nicht mehr Herausforderung bedeutet, liest man das also durchaus auch als eine kritische Anmerkung zum Machbarkeitswahn.
Fast gleichzeitig haben nun S. Fischer und Artemis & Winkler, weil in zwei Jahren der hundertste Todestag von Jules Verne bevorsteht, zwei sehr unterschiedliche neue Werkausgaben begonnen; beide allerdings zeigen die Illustrationen der Erstausgabe von 1873. Die von Manfred Kottmann übersetzte Taschenbuchausgabe von S. Fischer bietet den Roman vollständig und sogar - wenngleich unmerklich - kommentiert an, da schwer zu verstehende Anspielungen durch geringfügige Textergänzungen erläutert werden. Eine Methode, die so vorsichtig verwendet, diskutabel ist, weil sie den Lesefluss nicht unterbricht; ein Hinweis darauf erhöhte gleichwohl die Transparenz.
Die Winkler-Ausgabe hingegen will mehr als nur eine neue Übersetzung. Gleichwohl bleibt Sabine Hübner näher am Original als Erich Fivian (Diogenes) und Manfred Kottmann (Fischer), sie glättet nicht, sondern freut sich an der manchmal verspielten Umständlichkeit Jules Vernes, folgt genauer seiner Ironie, spürt vielleicht noch etwas sensibler den Zwischentönen nach, die man um so sensibler wahrnehmen kann, je genauer man sich den grundlegenden Anhang angesehen hat, dessen schwächster Abschnitt der Kommentar von Volker Dehs ist, denn der fällt etwas spärlich aus. Es werden nur 36 Stellen erläutert, und die lauten manchmal nur: "Stephenson: Robert Stephenson (1803-1859), englischer Ingenieur und Lokomotivenfabrikant." Das schon gelobte Nachwort aber vertieft das Lesevergnüngen sehr, ebenso die kommentierte Zeittafel, welche das Leben des Autors und die ungewöhnlich starke Rezeption des Romans bis heute verfolgt. Abgerundet wird das ganze von drei Texten von Edgar Allan Poe, Jules Verne und François Oswald, die Licht auf die Entstehung des Buches werfen. Man darf gespannt sein auf die weiteren Bände dieser Ausgabe, am meisten aber auf die Biografie von Volker Dehs, die sie abschließen soll.
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