Authentizität und Inszenierung

Ein Tagungsgband der Murnau-Stiftung zur Geschichte des deutschen Dokumentarfilms

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zweifellos besitzt auch der Dokumentarfilm eine fiktionale Dimension und entgegen der allgemeinen Meinung ist dokumentarisches Arbeiten in hohem Maße formbestimmt.

Jenseits des Mythos von der "Errettung der äußeren Wirklichkeit" (Kracauer) versucht der vorliegende Band eine systematische Geschichte des deutschen Dokumentarfilms in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zu skizzieren - ein echtes Desiderat der Forschung.

Da man keine Geschichte ohne Vorgeschichte schreiben kann, verfolgt Jan Berg die "Techniken der Authentifizierung" von der Antike bis zur "Erfindung des ,Dokumentarischen'". Martin Loiperdinger zeichnet in seinem äußerst spannenden Beitrag die "Erfindung des Dokumentarfilms durch die Filmpropaganda im Ersten Weltkrieg" nach - im Fall der deutschen Kinematographie hätten wir es demnach mit einer doppelten Kriegsgeburt zu tun, denn auch der deutsche Spielfilm wurde ja erst durch den Krieg industriell belebt.

Am Anfang der Entwicklung des Dokumentarfilms steht der "Wahrheitsanspruch", d. h. das Versprechen des neuen Mediums Film nach unverfälschter Wirklichkeit, der Glaube, man könnte mit dem Film die Realität 1:1 wiedergeben. Doch wie Thomas Elsaessers Relektüre der Filme der Gebrüder Lumiere zeigt, kommen bereits hier bestimmte Inszenierungstechniken zur Anwendung, die das Bild des ungestellten Dokuments korrigieren. Karin Burns zeigt, wie die in den zehner Jahren mit dem expressionistischen Spielfilm assoziierte Kategorie der "Stimmung" überhaupt erst eine Differenzierung von Fiction- und Non-Fiction-Filmen bewirkte. In den 20er Jahren bildet sich dann der Dokumentarfilm gegenüber dem bereits die Szene beherrschenden Spielfilm als eigenständige Gattung aus. D. h., es kam schließlich zu einer Überlagerung von fiktionalen und nonfiktionalen filmischen Techniken, zu einer "expressiven Sachlichkeit" des Dokumentarfilms. Der Beitrag von Norbert M. Schmitz beschäftigt sich mit G. W. Pabsts Bergwerks-Film "Kameradschaft" (1931), der dokumentarische Momente in den Spielfilm integriert. Schmitz zufolge haben wir es bei Pabst nicht mit einer kalten Affirmation der Technik zu tun - wie etwa in den Industriefilmen Walter Ruttmanns. Vielmehr soll eine neue Selbstverständlichkeit im alltäglichen Umgang mit dem Technischen eingeübt werden. Aber Schmitz Versuch, Pabsts Film im Kontext der neusachlichen Photographie zu verhandeln, ist eine Engführung. Schmitz nimmt nur die ,positiven Fakten' (Paul Veyne) wahr, d. h. die zu seiner Vorstellung der Epoche passenden Fakten. So muss er übersehen, dass "Kameradschaft" keineswegs im neusachlichen Diskurs aufgeht und bestimmte Momente dieses Films erst viel später in der Filmgeschichte wieder auftauchen werden - etwa im Neorealismus oder dem Cinema Verité. Kay Hoffmann schließlich interessiert sich in ihrem Aufsatz für den Konnex ,Avantgarde und Faschismus' im Feld des Dokumentarischen. Dabei kann sie zeigen, wie bestimmte avantgardistische Techniken im nationalsozialistischen Dokumentarfilm überlebten. Sie belegt ihre Thesen nicht nur am Paradebeispiel Ruttmann, sondern auch an den weniger bekannten wie Wilfried Basse, Carl Junghans und Willy Zielke.

Trotz der Heterogenität bietet der Band insgesamt also einiges Material für eine allerdings noch zu schreibende Geschichte des deutschen Dokumentarfilms in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Titelbild

Ursula von Keitz / Kay Hoffmann (Hg.): Die Einübung des dokumentarischen Blicks. Fiction-Film und Non-Fiction-Film zwischen Wahrheitsanspruch und expressiver Sachlichkeit 1895-1945.
Schüren Verlag, Marburg 2001.
210 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3894723289

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