Was geschah an jenem Tag im September?
Ein Rückblick mit den Kisch-Preis-Kandidaten 2002
Von Doris Betzl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWie Hollywood nach Kambodscha kam - diese Geschichte hätte Egon Erwin Kisch, dem Namensgeber des begehrten, seit 1977 vom "Stern" gestifteten Journalistenpreises gefallen. Alexander Smoltczyk hat sie etwas anders betitelt: Er beschreibt in "Lara Croft im Killing Field" den Einzug einer amerikanischen Filmproduktionsfirma in das Reich der Khmer und der Tretminen. Seine Reportage, 2001 im "Stern" veröffentlicht, stand auf der Auswahlliste zum Egon Erwin Kisch-Preis 2002. Die "besten deutschsprachigen Reportagen" werden alljährlich zur Preisvergabe in einem Band versammelt und vom Aufbau Verlag herausgegeben.
Dass dem berühmten Reporter Kisch mit seinen Texten heute die Zeitungsseiten verwehrt blieben - gerne (und wohl zurecht) wird diese Mutmaßung angesichts der Kriterien zur Vergabe des Kisch-Preises geäußert. Klüfte tun sich auf zwischen den Kompositionen des Patrons und den heutigen Anforderungen an Qualitätsjournalismus. Die von "Stern"-Chefredakteur Thomas Osterkorn im Vorwort benannte Aufgabe des Reporters, "die Realität hinter einem Bild und die Wahrheit hinter einem Ereignis herauszufinden", trifft gleich den wunden Punkt. Ganz genau hielt es der deutschsprachige Prager Kisch, der sich als Weltbürger verstand, nicht mit seinem selbst aufgestellten Leitsatz, der reinen, faktischen Wahrheit zu dienen. Manches Detail litt zugunsten einer "höheren" Wahrhaftigkeit - die eine subjektiv gefärbte bedeutete. Manches Faktum fiel womöglich der besseren Pointe zum Opfer. Doch eines verbindet den Vater der modernen Reportage mit seinen Enkeln im Fach: Ihr Element, die Printmedien, können bedienen, was die Konkurrenz in TV und Hörfunk meist notwendig vernachlässigt: das fünfte und sechste "journalistische W" - neben "wer", "was", "wann", und "wo" gibt es auch Fragen, die "wie" lauten oder "warum". Das bedeutet, Hintergründe auszuleuchten. Das braucht Platz. Und Zeit. Nicht verwunderlich, dass die Mehrzahl der im Jahr 2002 als listenwürdig erachteten Artikel aus Zeitungen und Magazinen stammt, die wöchentlich oder monatlich erscheinen - an der Spitze der "Spiegel", gefolgt von der "Zeit" und "Geo".
Zurück zum Namenspatron: Was ihn auszeichnete, was den Erfolg seiner vielen hundert Stücke mitbestimmte, war der Wiedererkennungswert. Kisch pflegte einen kräftigen, deftigen Personalstil. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wären im Jahr 2002 wohl Christoph Dieckmann, Michael Streck und Günter Handlögten die verdienten Kisch-Preis-Träger. "Putenkoller, Hahnenschrei" und "Das Kartell des Schweigens" lauten die Titel ihrer Reportagen, die dem selben Themenkreis entstammen: Es geht ums Tier und den menschlichen Umgang mit ihm, in Berichten von der "Grünen Woche" und von einem Dorf, das von Massentierhaltung lebt. Ein wohltuend starker Duktus eignet diesen Texten: Lebendig, Nah. Eigen. Sinnlich. Ohne das Thema in seiner Präsenz zu verdrängen. In den meisten der 30 auserwählten Reportagen - 436 wurden eingesandt - tritt jedoch der Schreibstil hinter dem Ereignis, hinter den recherchierten und erlebten Geschehnissen zurück.
Das Buch ist spannend, denn es fungiert als Zeitrückblick, ein bisschen wie die TV-Retrospektiven gegen Jahresende. Nur länger. Blicke vom Rand auf Phänomene des kollektiven Gedächtnisses - wie das Leben Hinterbliebener von Ramstein-Opfern, mehr als ein Jahrzehnt später. Das Umfeld des während des G8-Gipfels in Genua getöteten Demonstranten Carlo Giuliani wird beleuchtet. Und das Unvermeidliche hat seinen Platz: der 11. September 2001 - "An einem Tag im September". Nur eine Reportage zu diesem Thema nahmen die Juroren - Autoren und Redakteure großer deutscher Zeitungen und Magazine - unter die Preiskandidaten auf.
Ein schönes Konzept hat das Kisch-Preis-Buch: Die Journalisten sind mit Bild und kleiner Vita vorgestellt. Mancher Lebenslauf reißt in Kürze ähnlich Abenteuerliches an wie die recherchierten Geschichten: Wie gelangt man etwa von der "Ostfriesenzeitung" über den "Playboy" zum "Spiegel"? Eine weitere schöne Geste, selbstbewusst und bescheiden zugleich: Die Namen der tatsächlichen drei Gewinner sind nur auf einem kleinen Lesezeichen dem Buch beigelegt. Im Jahr 2002 ging der erste Preis an Dietmar Hawranek und Dirk Kurbjuweit, der zweite Preis an Sabine Rückert und der dritte Preis an Jan Christoph Wiechmann. Erste unter Gleichen sozusagen. Etwa wie Artus und seine Tafelrunde.