Ein Ort jenseits der Kontrolle

Kim Jooyoung erzählt Familiengeschichte als Gesellschaftsgeschichte

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang des Romans steht eine Erinnerung. Dem Ich-Erzähler, einem Schriftsteller, wird ein Photo zugesandt, auf dem er erst allmählich das Dorf seiner Kindheit erkennt. Er freut sich keineswegs, nicht nur weil er seine ersten Lebensjahre selbst als "düster und unruhig" bezeichnet. Er will auch seine Bücher von seinem Leben trennen.

Indessen lässt sich die Vergangenheit nicht abweisen. Die erste, intensivste Erinnerung, die den ganzen Roman hindurch wiederkehren wird, ist die an Hunger. Die letzten Jahre der japanischen Kolonialzeit bis 1945, dann die Nachkriegszeit bedeuteten für die meisten Koreaner Armut - um so mehr für eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern. Als älterer Sohn für seinen Bruder verantwortlich, durchlebte der Erzähler bereits als Kind Momente schrecklicher Einsamkeit: die Stunden, in denen die schwer arbeitende Mutter außer Haus Geld verdiente und die alleingelassenen Kleinen bangten, ob sie denn zurückkehren würde. An manchen Nachmittagen, scheinbar endlos, weil der bohrende Hunger erst am Abend würde gestillt werden können, begegneten aber dem Erzähler Momente schöner Einsamkeit: am Gebirgsbach, oder auf dem Schulhof an jenen Geräten turnend, die in den vormittäglichen Pausen von den stärkeren, satten Jungen okkupiert wurden.

Solches Erleben aber ist Ausnahme. Fast allgegenwärtig sind Überwachung und Kontrollfragen: Lehrer, die Hefte, Fingernägel und Taschen der Schüler überwachen, die strafen, und zwar mit Vorliebe den Erzähler, dessen Mutter sich erfolgreich um die Zahlung des Schulgelds drückt; die Mutter, deren Buben ihre ganze Hoffnung sind; die alleingelassenen Jungen entdecken, wie ihre Mutter mit der Pflege eines anderen Kindes Geld für sie verdient; die Männer des Dorfes mit ihrem Blick auf die Moral der alleinstehenden Frau; und schließlich, in paradoxer gegenseitiger Abhängigkeit, die hungrigen Dorfkinder den Aufseher über den Reis in der örtlichen Brauerei, der seinerseits die Kinder beobachtet und seine Tätigkeit nur behält, wenn diese ihn umlagern; weshalb er, wenn der Brauereibesitzer ihn gerade nicht beobachtet, ihnen kleine Diebeserfolge gönnen muss, damit sie die Hoffnung nicht aufgeben. Die letzte, brutalste Beobachtungsinstanz ist dann die politische Polizei, die erst spät ins Geschehen eingreift und, stets auf Kommunistenjagd erst einen Agenten enttarnt und dann mit suggestiv drohender Befragung weitere Verdächtige und Verfolgte produziert. Hellsichtig zeichnet Kim nach, wie bohrendes Fragen und grundsätzliches Misstrauen das Verbrechen erst produzieren, das sie aufzuklären vorgeben.

Eine solche Zuspitzung deutet sich im Roman zunächst kaum an. Im ersten der vier Teile reiht sich Szene an Szene, werden Motive angeschlagen, deren Bedeutung allenfalls zu erahnen ist. Bildkräftig und gleichzeitig in seinen epischen Mitteln ökonomisch skizziert Kim eine zuerst statisch wirkende Welt. Im Rückblick aber erweist sich, was bei der ersten Lektüre wie eine assoziative Reihung von Erinnerungen wirkt, als äußerst bewusste Exposition kommender Konflikte.

Spiegelung wie Phantasie bedeuten früh Distanz von subjektiver Not und weisen auf die spätere Arbeit als Schriftsteller voraus. Als ein ungeschickter Friseur den kindlichen Erzähler schmerzhaft rupft, lenkt ein im Spiegel sichtbares Bild von der Pein ab; als später der Erzähler nachmittags, kopfüber am nach Unterrichtsende nicht mehr umkämpften Reck hängend, die Welt gespiegelt sieht, tritt die einzige Lehrerin des Kollegiums auf ihn zu, befragt ihn, und zwar derart sensibel, dass der Unterschied zu den Bedrängnissen durch die stets missgünstigen Lehrer unverkennbar ist. Gerade dadurch aber wird das Kind instrumentalisiert, für einen Botengang, dessen Scheitern zentral für den Zerfall der Dorfgemeinschaft wie für den Umschlag von motivischer Exposition in Handlung wird.

Die immer deutlicher zutage tretende erzählerische Konzentration bedeutet zugleich Auflösung. Vielleicht zerfällt im Gefolge politischer Überwachung eine überschaubare Welt; der halb blöde Reisaufseher gerät durch eine absurde Reihe von Umständen in den Verdacht, kommunistischer Agent zu sein, und er verlässt schließlich das Dorf, das derart, des Opfers seines Hohns beraubt, die soziale Mitte verliert. Vielleicht auch zeichnet die Erzählerperspektive jene Relativierung der Lebenswelt nach, die jedes Erwachsenwerden mit sich bringt.

Auf einmal jedenfalls sind die Umstände nicht mehr fraglos gegeben, sondern erscheinen sie als veränderlich. Das Leben ist nicht mehr rhythmisiert durch die Tage, an denen die arbeitende Mutter abwesend ist und die Kinder Hunger leiden. Auch die Familienordnung zerbricht, Tabus gelten nicht länger: Auf den letzten Romanseiten kann sogar der verschwundene Vater genannt werden, den zuvor mehr als zweihundert Seiten beredtes Schweigen vermieden und derart in den Mittelpunkt stellten. Sogar der spätere Tod des Bruders, der vielleicht beim Versuch umkam, den kommunistischen Norden des geteilten Landes zu erreichen, wird skizziert - manche Unklarheit hier mag dem Jahr der koreanischen Erstveröffentlichung 1988 geschuldet sein, in dem die Demokratisierung des Südens noch kaum begonnen hatte und jeder allzu positive Bezug auf den Norden eine Gefahr für den Autor bedeutet hätte. Die Leerstelle hier ist freilich auch poetischer Gewinn, führt konsequent die Zweifel fort, die den beobachtenden Blick des Erzählers auf seinen Bruder ohnehin kennzeichneten.

Das Dorf ist dem kindlichen Erzähler Welt, doch ist es nicht Welt schlechthin. Genau jene Kindheit war so nur an jenem bestimmten Ort möglich, den der Autor mit präzisen Beobachtungen skizziert und dessen Photographie ja zunächst den Erinnerungsprozess auslöst. Der Zerfall des überschaubaren Zusammenhangs steht nicht nur für ein reflektierteres Bewusstsein des aufmerksam beobachtenden Kindes, sie steht auch für die rapide soziale Entwicklung im sich modernisierenden Süden Koreas. Ort und Zeit sind unabdingbare Voraussetzungen für genau den Verlauf, den Kim erfindet; keine Stadt, die Brennpunkt der Veränderung wäre, sondern eine überschaubare Einheit, in die die große Politik punktuell einbricht und dann, zumindest aus der kindlichen Perspektive kaum durchschaut, doch gründlich Strukturen vernichtet, die lange bestanden.

Von Kim Jooyoung liegt seit 2001 auf Deutsch bereits der einige Jahre später entstandene "Stachelrochen" (vgl. literaturkritik.de 2/2002) vor. Die Parallelen sind offensichtlich: Hier wie dort wird aus kindlicher Perspektive erzählt, beide Male ein in seiner Fremdheit symbiotischer Familienverbund: eine Mutter mit zwei Jungen hier, mit einem Jungen und vielleicht einer Halbschwester dort, beide Male ein in seiner Abwesenheit die Szenerie beherrschender Vater; und mutig und vom Erzähler neidisch-misstrauisch beäugt beide Male ein Geschwisterteil, das wesentlich weltgewandter agiert.

Doch Kim wiederholt sich nicht. Der "Stachelrochen", geschrieben nach der Demokratisierung Süd-Koreas, erzählt von individueller Befreiung aus einer Familienhölle, die durch immer noch nicht überwundene moralische Grundsätze bestärkt wurde. Der "Fischer" benennt, so deutlich es damals möglich war, politische Pressionen und wirkt so, trotz aller Überwachungsinstanzen, offener, welthaltiger. Freilich, der geschickte jüngere Bruder stirbt hier, und der Erzähler wirkt wenig befreit, wie die Pein verrät, die anfangs Photo und Erinnerung auslösen; der kindliche Erzähler im "Stachelrochen" dagegen wird erwachsen, indem er die scheinbar unumstößlichen Gesetze seiner Kindheit hinter sich lässt. Das Verhältnis von politischem Engagement und individueller Befreiung ist nicht eindeutig aufzulösen; was gerade den Wert von Kim Yooyoungs Progressivität erweist.

Die vom "Korea Literature Translation Institute Seoul" geförderte Übersetzung von Lee Kihyang und Martin Herbst scheint gelungen. Die beschreibenden Passagen sind anschaulich, nur wenige störende Koreanismen sind geblieben. Stärke der Übersetzung sind besonders die häufigen Passagen der wörtlichen Rede; hier ist im Deutschen eine Umgangssprache geformt, die durchaus grobes, alltägliches Sprechen wiedergibt, ohne anbiedernd zu wirken. Koreanische Erzählkonventionen weichen gründlicher vom in Europa Gewohnten ab als etwa die als exotisch durchaus goutierten Lateinamerikas; diese Schwierigkeit haben Lee und Herbst gemeistert. Zu hoffen ist, dass der Roman, trotz des sperrigen Titels, sein Publikum findet.

Titelbild

Kim Jooyoung: Ein Fischer bricht das Schilfrohr nicht. Roman.
Übersetzt aus dem Koreanischen von Kihyang Lee und Martin Herbst.
Edition Peperkorn, Thunum/Ostfriesland 2002.
264 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3929181509

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch