London, a love story

Peter Ackroyd hat mit "London. Die Biographie" einen sehr langen Liebesbrief an seine Stadt geschrieben

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"It is odd how one imagines that just because the sun is shining in London, it is shining everywhere else", schrieb Hanif Kureishi in seiner Kurzgeschichtensammlung "Dunkel wie der Tag" (2000). Ähnlich wie Kureishi, der seit zwanzig Jahren als fleißiger Chronist des Lebens in der britischen Metropole gilt, bemüht sich auch Peter Ackroyd um eine Darstellung des "wahren" Londons, weit weg von dem, was der Tourist mit der Stadt verbindet. Und so ist seine Biographie kein Buch für Uneingeweihte, die glauben, die Stadt zu kennen, weil sie vor zehn Jahren mal zwei Wochen lang durch sämtliche Touristenattraktionen gestolpert sind, sondern ein Buch für jene, die Ackroyds Liebe zu dieser mitunter brutalen und hässlichen Stadt teilen (wollen), weil oder besser obwohl sie von der Stadt mehr kennen als der Baedecker auflistet.

Aber ist es eine Biographie? Ackroyd, der ein etablierter Romanautor und Verfasser von Biographien ist, hatte schon immer einen Hang zum Mystischen - seine Dickens-Biographie beinhaltet beispielsweise eine Unterhaltung zwischen Ackroyd und Dickens sowie eine angeregte, "wirklich passierte" Unterhaltung zwischen Dickens, Blake und T. S. Eliot. Ähnlich nähert er sich London an und präsentiert kein chronologisches Städtebild, sondern vielmehr eine Komposition aus Anekdoten und Fakten, geordnet nach Themenbereichen wie "Das Londoner Englisch" und "Nebel und Smog". Ihm geht es um Kontinuität, nicht um stringent erzählte Geschichte. Es sind die sich stetig wiederholenden Lebensmuster und die unveränderlichen Kennzeichen der Stadt, die sich in jedem Jahrhundert wieder zeigen.

Ähnlich wie Kureishi, der in seinen Romanen und Kurzgeschichten das Leben auf den Londoner Straßen einfängt und festhält, interessiert sich Ackroyd wenig für das, womit die Metropole von außen gerne in Verbindung gebracht wird: die Royal Family, Big Ben, die Swinging Sixties, Cool Britannia. Sein Thema sind jene Menschen, die sich seit mindestens 2000 Jahren auf den Straßen dieser Stadt durchs Leben kämpfen, die Arbeiter, die Flüchtlinge, die Kriminellen, die "normalen" Londoner, die für ihn das aktive, ständig pulsierende Leben in der Stadt ausmachen.

Sein Material hat Ackroyd bis ins Detail recherchiert: Ironmonger Lane, lässt er uns wissen, hat seit ungefähr 355 Jahren dieselbe Breite. Aus dem Kontext gerissen mag einem dies als unwesentliche Anekdote aus dem prallgefüllten Notizbuch eines Mannes vorkommen, der von London besessen ist. Es ist aber diese Liebe zum Detail, welche die Stadt für den Leser wirklich zugänglich macht. Ackroyd sieht Geschichte als etwas, was man eher fühlt als sieht: Schatten und Echos der vorangegangenen Generationen sind überall und der Autor fängt sie auf seinem langen Gang durch die Stadt ein. Er gibt London ein Gesicht, mehr als es jede historische Erläuterung der Stadtgeschichte, fein säuberlich nach Daten geordnet, jemals vermöchte, und wird damit einer Stadt gerecht, die weitaus mehr zu bieten hat als das, was ein Postkartenbild oder ein Reiseführer transportieren kann.

"London. Die Biographie" ist ein Liebesbrief an eine Metropole und an die Menschen, die in ihr gelebt haben und leben. Es ist ein Buch über Stein und Asphalt gewordene Geschichte weit ab von historischen Eckdaten und offensichtlichen Trends, von einem Mann, der die Stadt genug liebt, um sich auch ihrer hässlichsten Ecken und ihren härtesten Lebensumständen mit Leidenschaft anzunehmen. Wer sich ein genaues Bild der Londoner Geschichte machen will, sollte vielleicht ein anderes Buch lesen. Wer aber bereit ist, sich auf eine kleine Affäre mit diesem wunderschönen Monster von Stadt einzulassen, der ist bei Ackroyd an der richtigen Adresse.

Echten Stadtneurotikern sei jedoch empfohlen, sich die Originalausgabe von Chatto & Windus (London: The Biography) zuzulegen, da diese erstens selbst im Hardcover billiger ist als die deutsche Ausgabe von Knaus und man sich zweitens dann nicht über die wenig kenntnisreiche Übersetzung ärgern muss, die den Kernberereich der Londoner City, den Verwaltungs- und Finanzbezirk, für "die Altstadt" hält?

Titelbild

Peter Ackroyd: London. Eine Biographie.
Übersetzt aus dem Englischen von Holger Fliessbach.
Knaus Verlag, München 2002.
797 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3813501892

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