Germanistischer Autismus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Germanistik sagt man nach, ihr Interesse an der zeitgenössischen Literatur sei eher gering. Der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer erkor 2002 in seiner "Kurzen Geschichte der deutschen Literatur" die Blindheit gegenüber aktuellen literarischen Entwicklungen sogar zum Programm: Was Gegenstand der Literaturgeschichtsschreibung werden könne, entscheide, so Schlaffer, nicht die Mit-, sondern die Nachwelt.

Drei Germanisten aus Essen - Clemens Kammler, Jost Keller und Reinhard Wilczek - sind einer solchen Verabschiedung der Literaturwissenschaft aus der Gegenwart entgegengetreten. Vor kurzem veranstalteten sie ein bemerkenswertes Symposion zur zeitgenössischen deutschen Literatur, über das die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am 26.9.2003 berichtet hat. Rechtzeitig zum Beginn dieser Tagung haben sie auch in einer bibliographischen Bestandsaufnahme zusammengetragen, was in ihrem Fach zur Gegenwartsliteratur seit 1989 an nennenswerten Beiträgen über Gattungen, zentrale Themen oder Debatten geschrieben worden ist. Darüber findet sich in ihrem Kompendium zu hundert ausgewählten Autoren (von Jurek Becker bis Feridun Zaimoglu) Forschungsliteratur verzeichnet. "Grundsätzlich", so erläutern sie in ihrem Vorwort, sei dabei nur die "Literatur des Wissenschaftsbetriebs" berücksichtigt; Artikel der Zeitungsfeuilletons seien dagegen nur in Ausnahmefällen aufgenommen worden.

Warum, fragt man sich, diese Beschränkung? Sind nicht gerade für die Gegenwartsliteratur die Auseinandersetzungen in den Feuilletons weit wichtiger als Nachweise germanistischer Sekundärliteratur? Und warum wird, was die Feuilletonbeiträge betrifft, zwar auf das Innsbrucker und Dortmunder Zeitungsarchiv, nicht aber auf die - zugegebenermaßen etwas im Verborgenen agierende - Marbacher Dokumentationsstelle verwiesen?

Eines der problematischen Resultate dieser literaturwissenschaftlichen Selbstbezüglichkeit zeigt die Auswahl der hundert Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Das einzige objektive Kriterium habe hierbei die quantitative Berücksichtigung in der Sekundärliteratur geliefert. Und da offenbar keinem oder nicht genug Germanisten etwas zu ihnen eingefallen ist, fehlen zum Beispiel die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin des Jahres 1998 Sibylle Lewitscharoff und der Alfred-Döblin-Preisträger des Jahres 1999 Norbert Gstrein. Und wer nach so grundverschiedenen, aber gleichermaßen wichtigen Autorinnen und Autoren wie Hartmut Lange, Dagmar Leupold, Thomas Meinicke, Terézia Mora oder Martin Mosebach Ausschau hält, wird ebenfalls enttäuscht. Was auf den ersten Blick wie eine germanistische Leistungsschau aussieht, erweist sich daher bei näherem Hinsehen als neuerlicher Beweis, daß die Germanistik der Gegenwartsliteratur (noch) nicht gewachsen ist. Dieses Buch stellt immerhin einen Beginn dar und wird einen gewissen Nutzen erfüllen. Er wäre freilich weit größer, wenn man nicht auf ein Personenregister verzichtet hätte.

Das Buch kostet bis 15. November 2003: 20 Euro (Subskriptionspreis)

G. N.

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Titelbild

Clemens Kammler / Jost Keller / Reinhard Wilczek: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Gattungen - Themen - Autoren. Eine Auswahlbibliographie.
Unter Mitarbeit von Tanja van Hoorn.
Synchron Wissenschaftsverlag der Autoren, Heidelberg 2003.
365 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3935025564

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