Bedingungsloses Liebeswerben

Ernst Augustins altmeisterliches Buch und Hörbuch "Die Schule der Nackten"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man darf den berühmten Satz Heraklits, wonach der Krieg der Vater aller Dinge sei, nicht militärisch verkürzen. Denn Heraklit zielte mit ihm auf das Leben schlechthin, auf den leiblichen und subkutanen Kampf antagonistischer Kräfte ebenso wie auf den Widerstreit der Ideen und Ideologien, Schulen und Disziplinen, Kulturen und Religionen.

Niemand weiß das besser als Alexander, Hauptfigur, mehr noch 'Held' des neuen und neunten Romans von Ernst Augustin. Der 60-jährige Namensvetter Alexanders des Großen lebt als Privatgelehrter in München, seine chaldäisch-aramäischen Studien genießen in Fachkreisen einen guten Ruf. Und wenn er sich nicht gerade hinter Büchern verschanzt, dann besucht er das Freibad, um seinen wissenschaftlich geschulten Blick zu testen. Er möchte natürlich nicht als Voyeur gelten, doch die Regeln dieses "Soziotops" studiert er genau: Tief dringt sein Blick in die - teils rasierten - "Tüten" der Damenwelt, darunter das größte weibliche Genital, das je in einem öffentlichen Freibad gezeigt worden ist. Ja, es ist ein Jahrmarkt, über den Alexander seinen Blick schweifen lässt, um ihn zu erkunden, und seine Eroberung des Nacktbadegeländes schließlich ist ganz in militärstrategische Nomenklatur gefasst:

Als habe er den Brustpanzer des Makedonierkönigs angelegt, schreitet er, seine Potenz, ja Existenz vor sich hertragend, durch die Phalanx derer, die sich ihr Terrain bereits gesichert haben. Er durchmisst die undurchdringliche Gürtelzone, die das Schwimmbecken des Jakobi-Bades ringförmig umschließt (und seit den frühen Morgenstunden heiß umkämpft war). Er passiert, die brettharten Muskeln angespannt, eine stählerne Reihe "ungeheurer Prügel", die, unnötige Längen vortäuschend, mit Vorhäuten wie Kartuschen ausgestattet sind, zum Teil rosig glänzend, zum Teil blau-rot und geschunden. Und mit dem Ausruf "Thalatta, thalatta" wirft er sich in die Fluten - nachdem er zuvor in einen Pappteller mit Senf getreten ist.

Er macht eine komische Figur, dieser Alexander, und nicht Überlegenheit, sondern Unsicherheit charakterisiert seine Bewegungen. Gefahr droht ihm nicht nur von jenem behaarten Vierschrot, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Spanner bloßzustellen, sondern auch von weiblichen Abgründen, die sich, scharf herausgearbeitet zwischen gewaltigen Schenkeln, vor seinen Augen auftun, ob er will oder nicht: "Wie, durchfuhr es mich, wenn ich jetzt eine Erektion bekäme?"

Freilich, auch das ist eine bekannte Erfahrung: In erotischer Hinsicht gibt ein Freikörpergelände nicht viel her - wo alle nackt sind und keine lasziven Stoffe oder Gewebe den Eros stimulieren, fehlt das nötige Gefälle. In altmeisterlicher Manier entwickelt Ernst Augustin, Jahrgang 1927, sein Sujet. Seine Erzählung über Nacktheit und Scham wagt die Gratwanderung zwischen Natürlichkeit und Peinlichkeit und meistert sie auf geradezu grazile Weise. Bald hat Alexander in einer Gruppe liebenswürdiger älterer Frauen seinen Stammplatz gefunden - Damen mit Runzeln: jeder Zentimeter Haut eine "kostbare Klöppelarbeit".

Alexander beobachtet alles genau - und auch etwas "zwanghaft" - und bleibt dennoch bemüht, seine Façon zu wahren, bis ihn sein Autor, buchstäblich aus heiterem Himmel, mit der Frau seines Lebens konfrontiert. Juliane heißt die 'Schönhüftige' Anfang dreißig, die Alexander um seine innere Ruhe bringt, und ein Bild dieser 'Schönhüftigen' ziert auch Buch und Hörbuch, deren Cover unter Verwendung eines Gemäldes (die "Springende" von 1995) der Malerin Inge Augustin gestaltet wurden: Der weibliche Körper mit XXXL-Muskelpartien im Podex-Bereich und gewaltigen Schenkeln ist ihr Sujet; eine weiße, fast durchsichtige Haut umschließt diese Körperlandschaft und lässt sogar die feinen blauen Verzweigungen der Venen erkennen - Alexanders Idealtyp?

Tragisch ist, dass Juliane ihn doch nicht lieben kann - weil sie seit früher Kindheit die Berührung von Männern nicht erträgt. So dass, was mit unbeschwert-slapstickhafter Komik als Sommerstück am Pool begann, rasch und mit strenger Erzählökonomie in tiefe und dramatisch bewegte Strömung gerät: Der Puls rauscht in den Ohren, das erregende Brausen der Badenden tritt zurück. Von nun an konzentriert sich bei Alexander alles darauf, Juliane zu umwerben und ihr einen Ausweg aus ihrer Seelenpein zu weisen. Freilich geht auch dies nicht ohne Übermut ab, und Augustin-Leser werden sich an die Encountergruppe in "Eastend" (1982) oder an die therapeutisch wirksame Architektur seines Romans "Raumlicht" (1976) erinnert fühlen, wenn hier, in "Die Schule der Nackten", vordergründig der Tantra-Kultus Befreiung und Erlösung verspricht. Das klingt natürlich nach Esoterik, nach indischem Sektentheater und 'genitaler' Heilslehre - und hat sofort mit Alexanders Widerstand zu rechnen. Als Gebildeter aber baut er sich gleichwohl Brücken, sucht nach dem wahren Kern okkulter Erfahrung und nimmt sogar, Juliane zuliebe, an einem Tantrakurs teil, um dann seinem Glück eine eigene Deutung zu geben:

"Das Karma, legte ich dar, habe uns zusammengeführt, immer wieder, durch die Jahrtausende, als Könige oder Bettler, in guten und bösen Zeiten, und wenn nicht in diesem, dann im nächsten Leben. Fast glaubte ich selbst daran."

Ein Federstrich genügt Augustin, um seinen Helden als unabhängigen Kopf zu erweisen. Und während sich die anderen den Zumutungen von Guru Pradhi Rama willenlos unterwerfen und die Auflösung des Ichs in der Ekstase suchen, macht Alexander bloß gute Miene zum bösen Spiel. Feind alles Okkulten trachtet er danach, seine Juliane aus dieser Gruppe der Irrgläubigen herauszulösen - und schlüpft er mit ihr in die Haut von Gautama und Sita, die schon vor tausend Jahren ein Paar waren, in einer anderen Kultur, doch unter ähnlichen Verhältnissen.

Augustin greift hier auf ein Bilderreservoir aus der Entwicklungsgeschichte der Menschheit zurück, um ein individuelles Glück eine kollektive Erfahrung durchlaufen zu lassen. Er beschwört eine emphatische Liebe, die seit Jahrtausenden währt und sich als ewiges Gleichnis wiederholt: "Sita, die Schöne, die Leuchtende, die Immerwiederkehrende" folgt dabei dem Lauf der Sonne, die den Geliebten mit goldenen Augen erfasst, und in Gautama manifestiert sich der bedingungslos Liebende, der im Kampf um die Frau alles tun und sogar einen Mord begehen würde. In seinem Liebeswerben um Juliane lässt sich Alexander "davontragen" in prähistorische Zeit, aktiviert Bilder in sich, als würde C. G. Jung in Literatur übersetzt: Schon vor tausend Jahren, erinnert er sich, musste er gegen einen Tantramann zweifelhafter Provenienz antreten, der die Frauen des Dorfes verführt und sie ihren Männern entfremdet hatte.

Heute, im bierselig illuminierten München, haben sich die Verhältnisse zwar geändert und sind die Frauen emanzipiert - doch die Konstellation ist gleich geblieben: Erneut muss der Held kämpfen, unter Einsatz seines Lebens, um die existenziellen Schatten der Vergangenheit zu vertreiben. Sein Körper ist kein Tempel der Ruhe und kein Gefäß zivilisierter Regungen, sondern Sitz der Begierden, der Eifersucht und der verzweifelten Tat.

Wie immer geht es Augustin um 'Konstellationen' bzw. 'Muster', die überall dort Anwendung finden, wo sich die sozialen, psychischen oder eben erotischen Probleme 'individuell' nicht lösen lassen. Wo aber das Individuelle scheitert, tritt das Absolute ein, so wie die absolute Liebe, die ja eigentlich auch nicht möglich ist und sich dennoch laufend ereignet: Ein Mysterium wird Realität, eben weil es wie ein Sechser im Lotto unwahrscheinlich ist (und noch tausendmal unwahrscheinlicher), eben weil unsere Sterblichkeit, unsere kurze Erdendauer, unser begrenzter Horizont, unser winziger Lebensradius dagegen sprechen. 'Wahrscheinlich' ist nur das Gedankenspiel, die Versuchsanordnung, das Lese- oder Kinoerlebnis, das wir als quasi mythische Erfahrung verinnerlicht haben und dann in der Realität umzusetzen suchen. So tröstlich verhält es sich, bei Licht besehen (und Augustin lässt sein München leuchten!) mit dem, was nur ein Bild ist und doch keine Metapher sein will, weil Alexander es wörtlich nimmt und danach handelt.

Buch und Hörbuch repräsentieren unterschiedliche Fassungen des Romans. Henriette Hochhuth hat Augustins Roman für die Hörbuchfassung eingekürzt, ihre Basis war die - noch unlektorierte und von Augustin noch nicht überarbeitete - Manuskriptfassung, die noch einige (wenige) Ungereimtheiten enthält sowie den später abgemilderten Traum des Ich-Erzählers, den Schriftsteller Martin Robert Walser zu töten. Regie führte Wolfgang Stockmann, Sprecher ist Reinhart von Stolzmann, der seiner ausdrucksvollen Stimme Erfahrung, Gelassenheit und Witz verleiht und mit Ironie und Verve die knapp vierstündige Strecke bewältigt.

Am Ende zieht sich Alexander wieder zu seinen Studien zurück. Er atmet den freien Geist des luftigen Lesesaals der Münchener Staatsbibliothek - und übt das "schöpferische Lesen", das zu lustvollen Ergebnissen führt: tolle lege Augustin.

Titelbild

Ernst Augustin: Die Schule der Nackten. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2003.
255 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406509681

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ernst Augustin: Die Schule der Nackten. Gekürzte, vom Autor autorisierte Fassung. 3 CDs mit Booklet.
Lesung von Reinhart von Stolzmann.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2003.
223 min, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3455303471

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