Kunst aus Fett, Blut und Dampf

Ein "Lexikon des künstlerischen Materials" stellt die Werkstoffe der modernen Kunst vor

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Rembrandt weiß man, dass er Besucher seines Ateliers davon abhielt, seine Bilder aus der Nähe zu betrachten. Einem ganz dem Illusionismus und der Wirklichkeitsnachahmung verpflichteten Kunstwerk zu nahe zu treten, galt in früheren Jahrhunderten als ungehörig. Das hat sich gründlich geändert. Seitdem die illusionistische Funktion anderweitig besser bedient wird, zeichnet sich moderne Kunst dadurch aus, dass sie ihre materielle Beschaffenheit mit zur Schau stellt. Je aufdringlicher die große Bildermaschinerie der Massenmedien läuft, desto eigenwilliger und sperriger stellt sich moderne Kunst in ihrer Materialität dem Betrachter in den Weg.

Nicht nur das: Auch der Kanon kunstwürdiger Stoffe hat sich im Lauf der Kunstgeschichte erweitert, bis er endlich durch die tabuüberschreitende Verwendung von Stoffen wie Blut, Haaren und Nahrungsmitteln ganz gesprengt wurde. Anything goes, so lautet mit Recht die ästhetische Devise. Kurt Schwitters, der in den zwanziger Jahren mit seinen Collage-Arbeiten das Publikum schockierte, bekannte im Rückblick: "Ich sah nämlich den Grund nicht ein, weshalb man die alten Fahrscheine, angespülte Hölzer, Garderobennummern, Drähte und Radteile, Knöpfe und altes Gerümpel der Bodenkammern und Müllhaufen nicht ebenso gut als Material für Gemälde verwenden sollte, wie die von Fabriken hergestellte Farbe."

Glaubte man im Mittelalter, dass, gerade zum Lob Gottes, nur kostbare Stoffe für Kunstwerke verwandt werden durften, hantieren heutige Künstler mit allem, was sich nur irgendwie als Medium für die Einschreibung von Formen verwenden lässt, gerne auch mit so genanntem "Abfall". Beuys Fettecken und Filzperformances sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. So setzte er zum Beispiel Speckseiten und Wurst neben einen alten Rucksack, vielleicht als eine Art Proviant für eine imaginäre Reise. Für seine größte Fettarbeit, "Unschlitt", verbrauchte Beuys 22 Tonnen Stearin und eine Tonne Rindertalg.

Die wichtigsten Werkstoffe der modernen Kunst, von Asche bis Zinn, von Blut bis Stroh, von Dampf bis zu Tierpräparaten, stellt nun ein "Lexikon des künstlerischen Materials" vor. Herausgegeben wurde das einem materialikonographischen Ansatz folgende Kompendium von den Hamburger Kunstwissenschaftlern Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt. Die mehr als 50 kenntnisreichen Artikel, versehen mit zahlreichen Abbildungen und Literaturhinweisen, skizzieren die Geschichte der jeweiligen künstlerischen Verwendungsweise sowie die Bedeutungszuschreibungen, stellen ein für dieses Material exemplarisches Werk vor und schließen mit Zitaten aus der Kunstgeschichte, die die sich verändernden Vorstellungen und Assoziationen widerspiegeln. Ein Handlexikon, für das Kunstfreunde dankbar sein werden.

Titelbild

Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn.
Herausgegeben von Monika Wagner, Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
262 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3406494013

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