"Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft"

Frédéric Beigbeder seziert die Werbebranche

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich heiße Octave und kaufe meine Klamotten bei APC. Ich bin Werber: ja, ein Weltverschmutzer. Ich bin der Typ, der Ihnen Scheiße verkauft. Der Sie von Sachen träumen lässt, die Sie nie haben werden. Immerblauer Himmel, nie flaue Frauen, perfektes Glück, Photoshop-retuschiert."

Beigbeders Alter Ego, Texter bei Rosserys & Witchcraft, ist Mitte 30, erfolgreich und das, was man in der Sprache der Psychoanalyse eine ambivalente Persönlichkeit nennt. Als selbsternannter "Nestbeschmutzer" enthüllt er die zynische Weltsicht der Werbebranche, eines Systems, das er als erfolgreicher Ideenlieferant zugleich mitbedient. Was Octave beklagt, produziert er unablässig selbst.

Wie Beigbeder schreibt auch sein Romanzwilling an einem Buch, das Insiderinformationen ans Licht bringen und die Branche dem allgemeinen Unmut preisgeben will. Mit einem einzigen Ziel - nämlich gefeuert zu werden. Doch er wird nicht gefeuert, er wird befördert. Obwohl er das moderne Interieur des Kunden mit dem Blut besudelt, das ihm nach ein paar auf der Toilette konsumierten Linien Kokain aus der Nase rinnt, und obwohl er auf seinem wichtigsten Etat immer wieder den Poltergeist gibt, wird sein Aufbegehren nicht ernst genommen. Kreative dürfen sich so etwas herausnehmen. Nicht nur der Romanheld, auch die Werbung selbst scheint vom Leiden der Ambivalenz heimgesucht. Das alles wäre kaum auszuhalten - gäbe es nicht den Koks, die Nutten und den Zynismus.

In "Neununddreißigneunzig" arbeitet Beigbeder grenzüberschreitend; er spielt mit verschiedenen Ebenen und zieht die mit dokumentarischen Daten imprägnierte Handlung immer wieder in die Wirklichkeit hinüber. Die Kapitel sind nach Erzählperspektiven durchkonjugiert und tragen die Überschriften "Ich", "Du", "Er", "Wir", "Ihr", "Sie". Die Handlung ist in Form von Reflexionen, Skizzen, Szenen und Dialogen locker um eine Rahmengeschichte - die Entstehung eines Fernsehwerbespots - drapiert. Wie im richtigen Leben wird sie in kurzen Abständen von Werbespots unterbrochen, in denen sich die pornografischen Ersatzvisionen Octaves entladen. Angereichert ist das Ganze mit Zitaten von Beigbeders Freund Michel Houellebecq, Marx, Cioran, Nietzsche, Leibniz, Joseph Goebbels und Hitler. Nicht zu vergessen die Bibel: "Was siehst du aber den Strohalm in deines Bruders Nase, und die Latte in deiner Hose nimmst du nicht wahr?" Nicht nur im Kopf des Werbers rumort es.

Mit kaltem Schmiss beschreibt der Held das erste Kundenmeeting, in dem sich ihm das Monströse der Werbung offenbart: "Da sitzt man Individuen gegenüber, die die Masse verachten und sie auf einen stumpfsinnigen, konditionierten Kaufreflex reduzieren wollen." Solche Leute kann Octave seinerseits nur verachten. So wie den Marketingdirektor von Madone, der sich ganz nebenbei als Rassist entpuppt: "ALFRED DULER IST EIN FETTES STÜCK DRECK." Octave will anecken um jeden Preis. Wie verhunzt man erfolgreich eine Kampagne? Indem man dem Kunden Mist verkauft. Und wenn dieser Mist vom Kunden abgelehnt wird? Indem man ihn mit "Last-Minute-Mist" abfertigt.

Beigbeder hat tief ins Agenturgeschäft geblickt und führt dem Leser das l'art pour l'art hirnrissiger Meetings vor Augen. Hier dreschen hochbezahlte Werber hochgestochene Phrasen und können dabei noch nicht einmal die Starttaste des Vieorecorders bedienen. Der gegenseitige Hass wird nach unten weitergereicht: "Das ist die große Kette der kommunikativen Verachtung: Der Regisseur verachtet die Agentur, die Agentur verachtet den Kunden, die Kunde verachtet sein Publikum, das Publikum verachtet seinen Nächsten."

Werbung ist Lüge, sie infiziert die Welt als Ganze und formt das Innenleben der Menschen. Darum lässt sie sich aus allen erdenklichen Perspektiven attackieren - ein bisschen Verschwörungstherorie, ein bisschen Globalisierungskritik, ein bisschen Zivilisationsgehader, ein bisschen Konzernschelte, ein paar Zukunftsvisionen á la Brave New World, dazu noch ein wenig Philospohie á la Pascal: "Ist dir eigentlich klar, dass du nur eine Mikrobe bist? Wirkt Baygon auch gegen Ungeziefer wie dich?" Kreative Ideen werden zurechtgestutzt, bis von ihnen nichts mehr übrig bleibt. Erst die "Amputation einer Amputation" wird vom Kunden schließlich akzeptiert.

Doch der Kritiker steht keineswegs besser da. Octave besetzt den Joghurt-Spot mit seinem Lieblings-Callgirl, der dunkelhäutigen Tamara. Natürlich wird ihr Teint später im Bildbearbeitungsprogramm aufgehellt. Auch der Werber ist Konsument, seine Fünf-Zimmer-Wohnung beherbergt alles, was das Herz des Marken-Fetischisten begehrt. An die entschwundene Freundin Sophie schreibt er: "Kehr zurück. Wenn du zurückkommst, schenke ich dir einen VW-Beetle." Sein ungeborenes Kind wird er nie zu Gesicht bekommen. Als moralische Instanz hat er von Anfang an versagt.

Wie schwer der Verlust der Freundin wiegt, dämmert ihm erst, nachdem es schon zu spät ist und der Texter seine "Verflossenheitsobession" in einer Nervenheilanstalt kurieren muss. Trotzdem bleibt das Leiden an der inneren Obdachlosigkeit merkwürdig konturlos: eine sich in Schmähreden auf Gott und die Welt entladende Zerrissenheit, ein zynisch verschnittener Trübsinn. Teilnahme oder echte Trauer sind Octaves Sache nicht, der postsoziale Protagonist bleibt distanziert und kühl. Dazugelernt hat er freilich auch nichts; er erklärt das auf finanzieller Abmachung beruhende Einvernehmen mit den Prostituierten noch zum Zeichen gesteigerter Empfindsamkeit: "Nur wahrhaft sensible Wesen müssen bezahlen, um Leiden zu meiden."

Damit steht Octave keineswegs alleine. Zu seinen Kollegen gehören der Kiffer Charlie, der seine Zeit damit verbringt, das Internet nach den schweinischsten Seiten zu durchforsten. Oder Jef, ein armseliger Karrierist, der sich nur durch Verrat vom Etatdirektor zum Agenturchef durchboxen kann. Der Creative Director Marc Marronnier hat zwar eine glänzende Werber-Vergangenheit, verdient sein Geld aber inzwischen mit unqualifizierten Kommentaren wie "nichschlech" oder "weesnich". Und dann die unerträgliche Selbststilisierung seiner schwerreichen Kollegen: "Je fetter die Knete (...), desto mehr Penner."

Rückkehr aus der Klapse zum Motivationsseminar in den Senegal. Eine entwürdigende Veranstaltung auf denen Zoten, grundlose Gemeinheiten und sexuelle Übergriffe fröhliche Urständ' feiern. Octave ist zum Einsamkeits-Kasper mutiert, seine Provokationen wirken nur noch peinlich. Seine Betrachtungen zur Werbung im Besonderen und die Welt im Allgemeinen wirken ungerührt und merkwürdig emotionslos: "Die Welt ist irreal, außer wenn sie zum Kotzen ist."

Auch der Selbstmord Marcs kann da nicht mehr aufrütteln: Octave snifft den Rest der Asche seines Freundes. Nach dem Dreh in Miami verleiht Beigbeder der Romanhandlung einen aufgesetzten Dreh: Die Aggression des Art Directors Charlie entlädt sich an einem "Sündenbock", einer stinkreichen Pensionärin. Octave wohnt der Szene nur als Beobachter bei, trotzdem trifft ihn Mitschuld. Beigbeder hätte vor dem Ende zum Ende kommen sollen, aber er lässt zu, dass der Plot ausfranst und sich der Roman müde weiterdreht. Indes bleiben Mord und Totschlag auf Handlungsebene nicht ungesühnt. Während Tamara sich mit dem verhassten Kunden Duler aus dem Staub macht, Charlie sich im Gefängnis das Leben nimmt, erfährt Octave im Knast von einem zweiten Selbstmord, dem von Sophie.

Der Ausweg? Es gibt keinen. Während die 68-er mit der Revolution begonnen hatten, um schließlich in der Werbung zu landen, wollte Octave den umgekehrten Weg beschreiten. Er wollte die Dinge "von innen" verändern. Ein Fehler, wie er nun bekennen muss. "Neununddreißigneunzig" ist auch die Geschichte einer missglückten Revolte. Und nun? Die Freiheit hinter Gittern entpuppt sich ebenso als Illusion wie der Eskapismus von Marc und Sophie, die ihren Tod nur vorgetäuscht hatten. Da hilft es nichts, dass Octave inzwischen selbst Creativ Director ist und die sexuelle aufgeladene Trash-Version des Joghurt-Spots in Cannes mit dem Goldenen Löwen belohnt wird.

Liebende haben immer Tuberkulose. Wohl darum beginnt Octave schließlich zu husten. Seine Vermischungsphantasien bleiben Fiktion, denn die Oberhand gewinnt etwas anderes: In seiner Zelle läuft ein Fernseher mit Werbung. Die zehn Jahre Haft werden ihn zu einem Konsumenten der eigenen Spots stählen. Auch auf Ghost Island, wohin sich Marc und Sophie geflüchtet haben, grassiert die Langeweile: "Keine Alternative zur wirklichen Welt. (...) Diese Insel ist ein Spukschloss." Dieses Mal passiert es wirklich: Marc nimmt sich das Leben, lässt sich hinaus ins Meer treiben. Will "Teil der Elemente" werden. Doch was am Ende an ihm vorbeizieht, sind wieder nur - Werbespots.

Mit "Neununddreißigneunzig" ist Beigbeder bewusst kein Risiko eingegangen. Schon sein Held Octave weiß: Die Revolte gehört zum Spiel. Medienwirksame Verleumdung wird höher belohnt als tumbes Mitmachen. Das System verdaut die Kritik und speit sie als klingende Münze wieder aus. Niemand kann sich den Fangarmen der Krake Werbung entwinden. Nach der Kündigung durch seine Werbeagentur Young & Rubicam feierte Beigbeder eine nur umso glänzendere Wiederauferstehung als "Skandalautor". Seither posiert er dandyhaft in Talkshows, spricht im Radio und lässt sich für Zeitgeistmagazine fotografieren. Beigbeder ist nicht nur Gesamtkunstwerk, sondern selbst auch noch seine beste Werbeidee. Zynisch ist das trotzdem. Das Blut an Octaves Händen stammt nicht nur vom Koksen.

"Neununddreißigneunzig". Der Wert einer Ware ist ihr Preis. Und war es auch vor Euro-Umstellung und Vergabe der Taschenbuchlizenz an den Rowohlt-Verlag.

Titelbild

Frédéric Beigbeder: Neununddreissigneunzig. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Grosse.
Rowohlt Verlag, Berlin 2002.
271 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 349923324X

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