Wenn die Vergangenheit die Gegenwart verschlingt
Assia Djebars "Frau ohne Begräbnis" mahnt vor dem Vergessen
Von Evelyne von Beyme
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn einem Geflecht aus fiktionaler Prosa und dokumentarischen Berichten verleiht die algerische Autorin der historischen Heldin Zoulikha als "tote" Protagonistin ihres 2003 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans "Frau ohne Begräbnis" neue Gestalt.
Es ist die Geschichte von der in den algerischen Unabhängigkeitskriegen der Fünfziger Jahre Gefallenen Heldin Caesareas, Zoulikha, die eine Reporterin mit Hilfe der beiden Töchter der Heldin, Freunden und Verwandten zu rekonstruieren sucht. Erinnerung wird hier zum Medium zwischen den Hinterbliebenen und der Ermordeten, in das Bewusstsein der Überlebenden so fest eingebrannt, dass sie Gegenwart wie Zukunft zu verschlingen scheint:
"Es war vor zehn Jahren, da begann in ihr dieses ununterbrochene Sprechen, das sie ausbrennt, sie manchmal verdüstert, wie ein in ihrem Innern fließender Schleim, der ohne Verlust abgesondert wird, nach außen [...] eine Leere und ein heimliches Murmeln, nicht nur in ihrem fülligen Leib, manchmal auch an seiner Oberfläche, sodass ihre durchscheinende Haut davon erröten konnte: eine Haut, die erschlafft ist vor lauter Spannung; die Kehle zugeschnürt, fast ganz in Tränen erstickt [...]. Endlose Suche nach der Mutter [...], die Mutter in der Tochter, ja, die Mutter, die sich durch ihre Poren ausschwitzt und aushaucht."
Der tranceartige, der Verstorbenen gewidmete Sprachfluss Hanias, die nur noch die Vergangenheit betrachtende Wahrsagerin Madame Lionne, und Zohra Oudai, die seit dem Tod ihrer Schwester Zoulikha keinen Fuß mehr in die Stadt setzt, sie alle verharren in einem Zustand innerer Rast- und Ruhelosigkeit, der mit dem fehlenden Grab der Heldin in Zusammenhang steht.
Bereits in Sophokles griechischer Tragödie "Antigone" wird auf die Bedeutung des Begräbnisses indiziert, das den seelischen Frieden des Verstorbenen sichern soll. Religion nimmt in "Frau ohne Begräbnis" einen tiefen Raum ein, welche gerade in der Zeit des Unabhängigkeitskrieges zu einem wichtigen Bestandteil der algerischen Identität wurde.
Bemerkenswert an "Frau ohne Begräbnis" ist das unentwegte Spiel zwischen auktorialer und personaler Erzählinstanz, ebenso wie die in einigen der zwölf Kapitel eingebauten langen Dialoge, in denen der Erzählakt nahezu vollständig auf stakkatoartige Regieanweisungen reduziert wird und dessen Höhepunkte die vier inneren Monologe der toten Romanheldin bilden.
Djebar ist tatsächlich 1975 als Reporterin in ihre Heimatstadt Caesarea, dem heutigen Cherchell, zurückgekehrt, um sich die Geschichte der historischen Zoulikha von den Töchtern, Freunden und Verwandten der Heldin erzählen zu lassen. Ihr mehrperspektivisches Erzählen dient zur Distanzierung von der eigenen Person, die in dem Roman verschiedentlich als "Besucherin", "Freundin" oder "Fremde" bezeichnet wird und gleich im Vorspiel dem Rezipienten als Ich-Erzählerin entgegentritt. Neben dem schöpferischen Potential der Schriftstellerin fließen in Djebars Werke ihre langjährige Erfahrung beim Film sowie die wissenschaftliche Arbeit als Historikerin mit ein.
Immer wieder konfrontiert Djebar den Leser in ihren Romanen mit der konfliktgeladenen Geschichte Algeriens, wie bereits in "Fantasia" (2000) und "Weißes Algerien" (2000), thematisiert den Kampf der in arabischen Traditionen gefangenen Frau um Emanzipation und Freiheit ("Die Frauen von Algier", 1999), was ihr im Jahre 2000 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels einbrachte.
Dieser schon in ihrem Debütroman "Durst" (vgl. literaturkritik.de 01/2002), angedeutete kulturelle Bruch, die Diskrepanz zwischen arabischem und europäischem Denken in Gestalt einer Frau wird in "Frau ohne Begräbnis" wieder aufgegriffen in der Figur Zoulikha - einer "Araberin, die außer Haus arbeitete und keinen Schleier trug". Innerhalb des Kampfes um die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft ist die Geschichte Zoulikhas vor allem eine Geschichte von der im Krieg geleisteten Arbeit einer furchtlosen Frau, die in ihrer Stadt ein geheimes Verbindungsnetz zu den Partisanen aufbaute.
Die fremdartig klingenden Metaphern und Rhythmen und der innovative Erzählstil der algerischen Autorin zeugen von der literarisch vollbrachten Leistung in "Frau ohne Begräbnis".
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