Ich komme aus Frankfurt am Main

Plädoyer für eine Stadt

Von Stefanie NelleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Nelle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich komme aus Frankfurt am Main, gehöre zu den wenigen meiner Generation, die ihre Geburtsstadt nicht verlassen haben, und darf also sagen, dass Deutschland für mich mit Frankfurt am Main identisch ist. Wenn ich dieses Frankfurt-Deutschland zu betrachten versuche [...], dann geht es mir wie mit der Cocteauschen Blume: Ich sehe Fetzen, Zerknülltes, Zerquetschtes, das sich manchmal rekomponiert, dazu schnell wieder zerfällt, bevor das innere Bild der Vollständigkeit aber gänzlich verblasst ist, unversehens wieder zusammengesetzt erscheinen kann."

Martin Mosebach beschreibt seine Stadt auf eine sehr einfühlsame Art und Weise. Er beweist eine große Beobachtungsgabe, wenn er Menschen und Gegenden auch einem Ortsfremden näher bringt. Dem Leser werden Einblicke in das Leben einer Stadt gewährt, die, obwohl sie auf den ersten Blick die Gemütlichkeit und den Charme vergleichbarer Großstädte vermissen lässt, trotzdem ein großes Wohlfühlpotential in sich birgt, das entdeckt und geschätzt werden will.

Der Autor, selbst Frankfurter mit Leib und Seele, entführt seine Leserschaft auf eine Zeitreise durch die Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Der Einzelne wird dabei zum Mitdenken aufgefordert, wenn Mosebach sich leichtfüßig und selbstverständlich in den Tiefen der Historie bewegt und sie veranschaulichend und vergleichend verwendet. Dabei ist eine Grundkenntnis des Lesers erwünscht, aber nicht zwingend.

Den Schwerpunkt bildet dabei das Frankfurter Westend und in ihm die Geschichte der Familie Labonté, deren Mitglieder dort ihr ganzes Leben verbracht haben und deshalb wichtige Zeitzeugen der Veränderungen des eigenen Viertels und der ganzen Stadt sind. "Das Westend aber war ein Bild der neuen Zeit. In der Altstadt waren die Gässchen eng und dunkel, hier waren die Straßen breit und hell; dort stießen die Häuser, nur von Brandmauern getrennt, aufeinander, hier wirkte manches Wohnhaus wie ein Hôtel particulier; dort berührte die Fahrstraße direkt die Schwelle des Haustors, hier war das Haustor durch Vorgarten, Zaun und Trottoir von der Fahrstraße getrennt. In alten Städten hieß es: Innerhalb der Mauern die Steine, außerhalb der Mauern das Gras, aber im Westend blühen der Kult der Blumen und Bäume." Die Betrachtung der Entwicklungen der Familie Labonté sind kritisch, wertend, wehmütig und manchmal auch ironisch, aber dabei immer aufrichtig und ehrlich, ohne die Wahrheit zu beschönigen. Dabei sind die Essays dem Roman "Westend" entnommen, wirken aber, obwohl sie fiktional sind, sehr realistisch und authentisch.

Die detailverliebte Darstellung und Beschreibung der innerstädtischen Veränderungen zeichnet den Stil des Autors aus. Liebevoll ist er darum bemüht, die Geschichte der Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen, ohne dabei die Romanform zu verlassen und auf eine trockene, rein informative Sachbuchebene abzudriften. Gebäude und auch die Einwohnerstruktur werden mit Elementen aus Kunst und Philosophie verglichen, um ihre Schönheit, die oft nur unterschwellig erkennbar ist, hervorzuheben und greifbar zu machen.

"Mein Frankfurt" ist ein Buch für Kenner und solche, die es werden wollen. Man merkt Mosebach die Begeisterung für und die Liebe zu seiner Stadt an.

Neben einer Reise durch die Zeit, tritt der Leser auch eine virtuelle Reise durch Vororte, Häuserschluchten, Apfelweinwirtschaften und Gerbermühlen an. Es handelt sich um einen Rundgang, eine Entdeckungsreise, die verwundert, ernüchtert, überrascht, bestätigt und dazu einlädt, selbst einmal nach Frankfurt zu reisen, um seinen bisherigen Eindruck zu überprüfen und gegebenenfalls zu bestätigen oder zu revidieren.

Titelbild

Martin Mosebach: Mein Frankfurt.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Rainer Weiss.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
165 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 345834571X

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