Irrungen, Wirrungen

Das Leben des Autors und Literatukritikers Reinhard Baumgart in Deutschland

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die meisten Autobiographen handeln ihre Kinder- und Jugendjahre eher knapp ab. Aus gutem Grund, sind sie doch für die Lesenden meist von geringerem Interesse, erschöpfen sich oft gar in langweiligen und somit überflüssigen Familienanekdoten. Reinhard Baumgart berichtet in seinen Erinnerungen an "Damals" - so der Titel seiner Autobiographie - hingegen ausführlich von den ersten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens. Ebenfalls aus gutem Grund, fällt seine Kindheit doch in die Nazizeit, diese "unbegreiflich kurz[e] [...] Schreckensepoche", die der Seite, die unter der "schwierige[n] Schuldgeschichte zwischen Deutschen und Juden" zu leiden hatte, allerdings kaum so kurz vorgekommen sein dürfte. Als der Zweite Weltkrieg, wie Baumgart schreibt, "verendete", war der Junge gerade mal 16 Jahre alt. Bis dahin hat der Autobiograph bereits 120 Seiten gefüllt, ohne die Lesenden auch nur mit einer einzigen zu langweilen.

Doch ist man bereits nach nur wenigen Absätzen verärgert. Noch bevor Baumgart seinen Rückblick beginnt, verstimmt er den Leser mit abfälligen Äußerungen über die "Nachgeborenen": sie seien "belesen klug" und "so erfahrungs- wie garantiert schuldlos" - was zweifellos gegen sie spricht. Ungebremst fährt er anekdotisch fort, von einer "erst nach Kriegsende geborene[n] Jüdin" zu erzählen, die im Jahre 2001 "quer über einen Geburtstagstisch" bemerkte: "Ja, ihr wollt euch nun alle eure Jugend schönen." Wer so spricht, meint Baumgart, werfe einen "kolonialistischen Blick" auf "unsere Kindheit und Jugend"; der erfasse und richte "aus der Perspektive einer späteren Zeit" und meine dabei "sie genauer und schärfer zu kennen, als wir sie erinnern". Was, wie er insinuieren will, ja wohl schlecht sein könne. Doch ist dies nur ein erster Versuch, sich gegen die von ihm offenbar erwartete Kritik zu feien. Auch später fließen immer wieder ähnliche Immunisierungen in seine Erinnerungen ein. Etwa wenn Baumgart erklärt, dass er noch immer "gereizt" reagiert, "wenn nachgeborene Helden des Widerstands" die Lebensläufe von Angehörigen der Generation seines Vaters - denjenigen also, denen man eine Mitverantwortung für die Schrecken und den Terror des Nationalsozialismus eher anlasten könne, als ihm, dem Jungen - "so fanatisch rezensieren, als wären sie selbst sich vollkommen sicher, mit den Scholls aufs Schafott gestiegen zu sein". Mit solchen Bemerkungen schickt er sich an, auch den kritischen Rezensenten seines Buches vorbeugend in den Arm zu fallen, denn wer möchte sich schon einer solchen Anmaßung die Feder führen.

Dabei beschönigt Baumgart seine Haltung während des Nationalsozialismus durchaus nicht, auch nicht die seiner Familienangehörigen, insbesondere nicht die seines Vaters, der eher ein "blind Vorausgelaufener" als ein "überzeugungslos Angepasster" gewesen sei. Wie in einem Brennglas fokussiert der 20. April 1945 das Leben der Familie während des Faschismus. Sie saßen vereint vor dem Volksempfänger, berichtet Baumgart, und lauschten Goebbels' Geburtstagsrede auf Hitler voller Hoffnung, er werde verkünden, "wie es denn weiter und wie es zu Ende gehen sollte". Obwohl Baumgart den führergläubigen Nationalsozialismus der Familie nicht kaschiert, trügt seine Ahnung nicht, dass seine Erinnerungen und Aufzeichnungen entschuldigend klingen könnten. Doch trifft das weniger auf die konkreten Schilderungen seines eigenen Verhaltens und desjenigen seiner Angehörigen zu, sondern kommt eher in - allerdings zahlreichen - allgemeinen Wendungen zum Ausdruck. Etwa, wenn er versichert, die "Volksgenossen" hätten "sich nicht vorstellen können und wollen, in was sie da" - offenbar ganz ohne eigenes Zutun - "hineingeraten waren", oder wenn er vom "mörderische Spuk" der Nazizeit spricht - für Spuk sind doch wohl Geister und Gespenster verantwortlich, nicht aber Menschen. Jedenfalls habe der "braune Firnis" die "deutsche Mentalitäten zwar zugedeckt, verkleistert", doch "viele in ihrer Tiefenstruktur kaum erreicht und zerstört".

Gegenüber den in diesem ersten Teil des Buches geschilderten Ereignissen und Erlebnissen erscheint der Rest des Buches eher belanglos. Dort berichtet Baumgart von den - beruflichen - Irrungen und Wirrungen des Erwachsenen, die ihn unter "störrische[r] Verweigerung jedweder zielbewusster Lebensplanung" über ein Chemie- und ein Germanistikstudium in den Piper Verlag als Lektor führten, in die Gruppe 47, ihn später zum Literatur- und Theaterkritiker machten, Literat und Drehbuchautor werden ließen - und ihn noch später als Hochschullehrer auf den Lehrstuhl von Walter Höllerer an der TU Berlin setzten. Das war 1990. Den "erstaunlich geduldigen Junggermanisten der neunziger Jahre" wird er allerdings über aktuelle Literaturtheorie kaum etwas zu sagen gehabt haben, schnurrt ihm die Postmoderne doch zum "anything goes" zusammen und bedeutet ihm nicht mehr als ein "Spielzeugladen".

Gut dreißig Jahre zuvor war er als Lektor bei Piper etwa für Hans Egon Holthusen, Gabriele Wohmann, Urs Jaeggi und Walter Jens "zuständig", vor allem aber für Ingeborg Bachmann. Von "meiner Autorin" weiß er zu erzählen, dass sie ihm nach der Lektüre seiner eigenen Erzählungen schrieb, "wie erstaunlich sicher ich doch sei, wie unsicher sie auf diesem neuen Feld". Auch hält er nicht damit hinter dem Berg, dass sie "durchaus geneigt" gewesen sei, die gemeinsame "Begeisterungsarbeit" an ihrem Erzählband "Das dreißigste Jahr" "mit mindestens einem langen Kuß abzuschließen" - was er "fürchte[te]", war sie doch "drei entscheidende Jahre älter" als er.

Später, in den 60er Jahren schien ihm das Leben "leichter, beweglicher, jünger" zu werden. Dies veranlasst ihn, ein kleines Kapitel über seine Liebschaften des Dezenniums einzufügen. Er beginnt damit, einige Eroberungen aufzuzählen, um sogleich zu versichern, dies geschehe nicht, "um eine späte Registerarie über frühe Liebesversuche abzusingen". Doch genau so liest es sich. Zwar war Baumgart seit den frühen fünfziger Jahren mit seiner Frau Hildegard verheiratet, eine "Entscheidung" und "Wahl", von deren Richtigkeit er stets überzeugt blieb, und eine Ehe, die bis an sein Lebensende Bestand haben sollte. Doch hinderte ihn das nicht daran, "immer wieder bereit" zu sein, "in den Ausnahmezustand einer Liebe zu geraten", die nicht nur "kurz, imaginär und folgenlos" blieb, ohne allerdings auch bereit zu sein, "irgendwelche Konsequenzen" zu tragen.

Von den Tagungen der Gruppe 47 erzählt Baumgart meist mit leicht überlegenem, manchmal gar sarkastischem Unterton. An die Lesungen kann er sich allerdings nicht immer erinnern. Entfallen ist ihm etwa, "[w]as an meinen ersten Gruppentagen, 1957 am Starnberger See, gelesen wurde". Beeindruckender war offenbar ein gemeinsamer Saunabesuch, von dem ihm die nackten Körper der Literaten im Gedächtnis haften geblieben sind, etwa diejenigen des "athletisch schönen Peter Weiss" und des "bleichhäutigen Enzensberger". Dass Mitglieder der Gruppe 47 "judenfeindlich" gewesen seien, bestreitet er nachdrücklich. Das sei nichts weiter als ein "Wahngebilde" des "forsche[n] Flügel[s] der sogenannten Forschung".

Auf den Tagungen der Gruppe begegnete er auch Marcel Reich-Ranicki, einem "polnische Emigranten", der sich "Schlag auf Schlag binnen kurzer Zeit im deutschen Literaturbetrieb profiliert hatte" und den eigenen Vorstellungen von guter und schlechter Literatur und deren Kritik "Schlag auf Schlag widersprach". Baumgart bescheinigt ihm ein "gewaltiges Talent zur Vereinfachung" und eine "populistische Lust an provokativer Grellheit und Wirkung". Dabei ertrage Reich-Ranicki selbst Kritik "noch weniger [...] als seine Opfer und Idole".

Fast ebenso breiten Raum wie die Erinnerungen an die diversen Tagungen der Gruppe 47 nimmt Baumgartens Zerwürfnis mit Jürgen Habermas ein, der zunächst lange Zeit sein "linke[s] Überich" gewesen sei, dann allerdings nur noch als ein Beispiel dafür, wie "feige und kläglich" das Projekt der Aufklärung schon im Kleinen scheitern könne.

Neben einigen Klischee wie dem der Bibliothekarin als "bebrillte[m], bleichen Fräulein", stolpert man im Laufe der Lektüre über einige stilistische Unebenheiten, die man bei einem Autor, der einige Zeit als Lektor tätig war, nicht erwartet hätte - weder, dass der junge Baumgart im Jungvolk zum Jungzugführer "hochbefördert" wurde, noch das Edgar Hederer, bei dem er als Student in der Vorlesung saß, "das Unsägliche der Dichter und Dichtung [...] wortgewaltig zu Sprache bringen" wollte.

Bei aller Kritik ist das Buch flüssig geschrieben und - man kann es nicht leugnen - süffig zu lesen.

Titelbild

Reinhard Baumgart: Damals. Ein Leben in Deutschland.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
384 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446204512

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