"Wohlan! So bin ich deiner los..."

Zur Trennung vom 20. Jahrhundert, zu einem Essay Peter von Matts und zu dieser Ausgabe

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nr. 1 des 2. Jahrgangs von literaturkritik.de startet mit rund hundert Rezensionen in das Jahr 2000. Mehr Bücher haben wir bisher in keiner Ausgabe besprochen. Trotzdem sei hier noch ein weiteres erwähnt, nein: angepriesen. Das knapp fünfzig Seiten umfassende Bändchen, dessen Erscheinen auf 2000 datiert ist, besteht aus einem Essay Peter von Matts. Er bezieht sich auf den Jahrhundertwechsel und tangiert zugleich die Schwerpunktthemen dieser Januar-Ausgabe: "Erinnerung" und "Psychoanalyse". Der Titel des Bändchens ist ein Zitat aus einem Gedicht Clemens Brentanos. Dem Dichter geht es um die Trennung von einem Lebenspartner, dem Literaturwissenschaftler um die Trennung von jenem Jahrhundert, in dem wir alle geboren sind.

"Wohlan! So bin ich deiner los", mag man seit dem 1. Januar erleichtert feststellen. "Aber so etwas wie eine Heimat", gibt Peter von Matt zu bedenken, "war das Jahrhundert ja gleichwohl. Zu jedem von uns gehört darin ein Tag, der uns vertraut ist wie kein anderer, der uns begleitet als Teil unserer Person und den wir schon hundertmal auf Formulare aller Normgrößen geschrieben haben, um zu beweisen, wer wir sind. Im einundzwanzigsten Jahrhundert aber, da steckt nun jener andere Tag irgendwo, der unsympathische, der zwar ebenso untrennbar mit unserer Person verknüpft ist, den wir aber trotzdem auf kein einziges Formular schreiben werden, weil wenigstens in diesem Fall die zuständigen Instanzen auf die eigenhändige Unterschrift verzichten." Noch ist es allerdings nicht so weit. Und noch "kann keiner mitleidig lächeln, wenn er uns sieht, und denken: Der stammt ja aus dem letzten Jahrhundert."

Für wissenschaftliche Bücher allerdings wird die Jahrhundert- und Jahrtausendgrenze schon bald ein Zeichen ihres Alters oder ihrer Novität sein (verbunden mit dem doppelten ss als auffälligstem Kennzeichen der neuen Rechtschreibung; auch literaturkritik.de stellt sich darauf langsam ein). Dass Freud die "Traumdeutung" auf 1900 vordatierte, verhalf dem Buch später zur Aura eines säkularen Neubeginns. Gegnern, die die Psychoanalyse zum Relikt des 19. Jahrhunderts zu erklären versuchten, wurde es jedenfalls dadurch schwerer gemacht.

"Wohlan! So bin ich deiner los/ Du freches lüderliches Weib!" Wut und Jubel des Abschieds, wie er mit den Versen Brentanos vollzogen wird, verdecken die ehemalige und immer noch wirksame Intensität der Bindung. Ob es sich mit dem Abschied vom 20. Jahrhundert ähnlich verhält? Abschiede sind mit forcierten Erinnerungen an das Vergangene verknüpft - und mit Zukunftsentwürfen. Die menschliche Natur gehe, so konstatiert Peter von Matt, "mit dem Vergangenen am liebsten um wie ein nasser Hund mit dem Wasser im Fell. Das zuckt und wirbelt und saust, und trocken ist das Vieh." Die in allen Kulturwissenschaften geradezu fieberhaft um sich greifende Konjunktur der Gedächtnis-Forschung im letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts, die mitunter den Charakter einer "Gedächtnisreligion" hat, arbeitet dominanten Bedürfnissen, sich von den Lasten der Erinnerung zu befreien, angestrengt entgegen. Die inflationäre Beschwörung eines kulturellen Gedächtnisses bietet sich als Kompensation zu Symptomen einer kollektiven Amnesie an oder ignoriert sie. "Da steigt ein nasser Hund aus dem Wasser, und man will es unter keinen Umständen wahrhaben."

Peter von Matt erinnert in diesem Zusammenhang auch an Freuds Beiträge zu einer Theorie der Erinnerung. Sie ist zugleich eine des Vergessens. Alles Vergessene lebt weiter und kann irgendwann wiederkehren. Das erkannt zu haben, sei eine bleibende Leistung der Psychoanalyse. Nicht vergessen zu können, ist gerade in der Bewältigung von Abschieden und Trennungen ein Fluch. "Der Terror der Erinnerung bleibt immer gegenwärtig, die Last des Unvergessenen liegt immerzu auf uns, bis zum Wahnsinn eben." Es gibt aber auch eine produktive Art der Erinnerung, die von unerkannten Lasten der Vergangenheit zu befreien vermag. Sie ist geradezu die Essenz der Psychoanalyse. Mit der Erinnerung an ihre Ursprünge in der Traumdeutung vor hundert Jahren verbindet literaturkritik.de das Gedenken an ihre Leistung nicht zuletzt zu den Problemen des Erinnerns.

An diesen Leistungen hatte vor allem aber auch die Literatur seit jeher einen erheblichen Anteil. Das rufen gleich mehrere Rezensionen zum Schwerpunkthema ins Bewußtsein. Peter von Matt erklärt in seinem Essay: "Auf der Wiederkehr des Vergessenen in verkleideter Gestalt beruht die Kunst." Zuweilen lässt Literatur die Vergangenheit jedoch auch fast unverkleidet in das Bewußtsein treten.

Titelbild

Peter von Matt: Wohlan! So bin ich deiner los/du freches lüderliches Weib! Über das doppelte Gesicht des Abschieds und das große Adieu vom 20.Jahrhundert.
Ammann Verlag, Zürich 2000.
46 Seiten, 4,10 EUR.
ISBN-10: 325020000X
ISBN-13: 9783250200000

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