Als man sich noch brusquement an den anderen wandte

Ulrike Haages und Ulrike Voswinckels Hörbild "Exakte Vision" nach Helen Hessels "Jules et Jim"

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

François Truffauts "Jules et Jim" faszinierte zuletzt den jungen, gewieften Autor Adam Thirlwell, der in seinem Roman "Strategie" die Leichtigkeit der klischeebehafteten Ménage à trois auf äußerst vergnügliche Weise entzauberte. Anhand des berühmten Films von 1961/62 erläutert sein Erzähler, was die Dreierbeziehung eigentlich so kompliziert macht, was aber auch für Truffaut der Beweggrund war, diesen Stoff nach der Vorlage von Henri-Pierre Roché zu verfilmen: "Alles war ambivalent." Fasst man Thirlwells "Strategie" als Fortschreibung von Truffauts Bearbeitung auf, so geht der "Vorfilm" mit dem Titel "Exakte Vision" einen Schritt weiter zurück zu bislang unentdeckten Quellen.

"Exakte Vision" erzählt die Geschichte der Liebesbeziehung von Helen Hessel zu den beiden befreundeten Schriftstellern Franz Hessel und Henri-Pierre Roché, die sie 1912 in Paris kennen gelernt hatte. Helen heiratete im Jahr darauf den Berliner Flaneur und Verfasser der "Pariser Romanze", Pierre wurde später ihr Geliebter. Während Roché eine künstlerische Verarbeitung der Ménage im Roman anstrebte, wählte Helen Hessel das Tagebuch. In unterschiedlichen Darstellungsformen, in Zeichnungen, Diagrammen, Auflistungen und Dialogen in Englisch, Deutsch und Französisch hält sie ihre Gedanken fest: narzisstisch und eifersüchtig, kokett und charmant, zornig und zärtlich. Sie spottet über ihre Liebhaber und liebkost sie in der nächsten Zeile, wünscht sich das große Abenteuer und die starke Schulter. Ihre pointierten Widersprüche werden in der Hörspielinszenierung zu Spiel- und Soundelementen eines akustischen Szenarios, strukturiert von der eindringlichen und konzentrierten Klavier-Komposition Ulrike Haages.

Die Pianistin und Komponistin, zuletzt mit dem Deutschen Jazzpreis 2003 ausgezeichnet, realisiert seit einigen Jahren Hörspiele, denen Biographien exzentrischer Künstlerinnen und Künstler, Bohemiens, zu Grunde liegen. Ob es der große Rauner und Waffennarr der Beat-Generation William S. Burroughs ist, die feinnervige Louise Bourgeois in "ding fest machen" oder die stets reisende und an sich selbst zweifelnde Jane Bowles in - was für ein schöner Titel - "Bei unserer Lebensweise ist es sehr angenehm, lange im voraus zu einer Party eingeladen zu werden", immer sind es Außenseiterexistenzen, die über Glück und Unglück ihrer Kunst sprechen, die sich nicht reibungslos mit den privaten Sehnsüchten vereinen lässt.

Literarisch stand ihr Ulrike Voswinckel zur Seite, die als Hörfunk- und Filmautorin über die Münchner Bohème recherchiert und publiziert hat. Helens Sohn Stéphane, der an der bislang einzigen, französischen Edition des "Journal d'Helen. Lettres à Henri-Pierre Roché" mitwirkte, überließ ihr Briefe und Tagebücher als Ausgangsmaterial. Durch das musikalisch anspruchsvolle Hörspiel, von einem bibliophilen Textbändchen begleitet, wird die Besitz ergreifende Muse, deren Name sich bislang allein der Übersetzung von Vladimir Nabokovs "Lolita" von 1961 eingeschrieben hat, als Kunstfigur greifbar. Meret Becker, selbst auf sympathische Weise im Verdacht einer neuen Berliner Bohème stehend, leiht ihr mal kindlich naiv und verspielt, mal aufbrausend und kraftvoll, zuweilen "brusquement", die Stimme. Nur in der selten vorgetragenen Live-Performance von "Exakte Vision", etwa im Münchner Gasteig, gelingt der Schauspielerin eine noch überzeugendere Annäherung, aber das liegt schließlich in der Natur der Sache. Das eigentliche Anliegen, eine sowohl literarisch als auch kinematographisch anspielungsreiche Entdeckung als akustischen Vorfilm - eine Umkehrung des Stummfilms - zu präsentieren, vermittelt sich ohne Zweifel eindrucksvoll.

Titelbild

Ulrike Haage / Ulrike Voswinckel: Exakte Vision. Helen Hessels "Jules & Jim". Mit Audio-CD.
POCIAO'S BOOKS, Bonn 2004.
64 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3880300429

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