Menschen, Mythen und Moränen

Fotoarbeiten von Guido Baselgia, Andreas Feininger, Helmut Gernsheim und Walter Niedermayr

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Hatje Cantz Verlag erscheinen schwerpunktmäßig Titel zur bildenden Kunst, modernen Architektur und Design. Mit dem Ausbau der Hatje Cantz Editionen werden exklusive Vorzugsausgaben, Grafiken und Multiples in kleinen Auflagen veröffentlicht - und ganz nebenbei auch wichtige Bücher zur Fotogeschichte und Fotoarbeiten zeitgenössischer Künstler. Es folgt eine Auswahl aus dem inzwischen umfangreichen Programm.

Helmut Gernsheim gilt als Pionier der Fotogeschichte. Sehr früh erkannte er die Fotografie als autonomes künstlerisches Medium und widmete sich mit großer Kennerschaft ihrer wissenschaftlichen Erforschung. 1945 legte er den Grundstein zu der inzwischen weltberühmten Gernsheim Collection: Er entdeckte vergessene Meisterwerke aus der Frühgeschichte der Fotografie und spürte die älteste erhaltene Heliografie von 1826/27 auf. Seit diesem Aufsehen erregenden Fund gilt Nicéphore Niépce und nicht - wie lange angenommen wurde - Louis Mandé Daguerre als der Erfinder der Fotografie.

Bereits seit Anfang der fünfziger Jahre organisierte Gernsheim Fotoausstellungen. 1955 erschien sein monumentales Hauptwerk "Geschichte der Fotografie", das in viele Sprachen übersetzt wurde. Seit 2002 ist der zeitgenössische Teil der Gernsheim-Fotosammlung, dazu seine eigenen Fotos, der Nachlass sowie seine umfangreiche Bibliothek in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen beheimatet. Die Sammlung umfasst verschiedene Sparten wie Bildjournalismus, Sachfotografie, Portrait, Landschaft, Tiere, Tanz, Theater, experimentelle und künstlerische Positionen. Die erste Ausstellung aus dieser Sammlung, der auch der vorliegende Band "Helmut Gernsheim - Pionier der Fotogeschichte" folgt, widmet sich dem "Fokus Mensch" und zeigt die große Bandbreite der Portraitfotografie.

Großen Raum nehmen die nach den Namen ihrer Fotografen angeordneten Lichtbilder bekannter Wissenschaftler, Schauspieler, bildender Künstler und Schriftsteller wie das bekannte Beckett-Portrait von Rosemarie Clausen ein. Geburtsszenen, Kindheit, Pubertät, Erwachsensein und Alter sind ebenso abgebildet wie verschiedene Zustände menschlicher Existenz: Armut, Trauer, Verweigerung, Sammlung, Konzentration, Glück. Zwar stammen die meisten Aufnahmen aus Europa und den USA, doch man stößt immer wieder auf Bilder aus Guatemala, Nigeria, Kamerun, Mexiko, Chile und Ägypten. Unerhörtes spielt sich in Houston, Texas ab, wo Victoria Herberta in ihrem Haus ein stattliches Schwein beherbergt.

Obwohl Gernsheims Sammlung einen einzigartigen Blick auf die Fotografie des 20. Jahrhunderts und eine wertvolle Basis für internationale Forschungen zur Fotogeschichte bietet, ist seine kunsthistorische Methodik heute keineswegs unumstritten. Er und der Amerikaner Beaumont Newhall hatten damit begonnen, sich ein völlig neues Fachgebiet zu erschließen und es durch ihre eigene Tätigkeit zu definieren. Dass sie auf dem Gebiet der Fotografiegeschichtsschreibung faktisch konkurrenzlos waren, führte allerdings dazu, dass sich konträre historiografische Strategien erst gar nicht ausbilden konnten.

In diesem Vakuum vermischte sich persönlicher Geschmack nicht selten mit wissenschaftlichen Werturteilen, Kunstkritik mit Historiografie. Gernsheims Vorliebe für eine schnörkellose Fotografie und seine Verachtung des Piktorialismus und fotografischer Experimente seien hier nur erwähnt. Auch scheint er kulturellen und institutionellen Einflüssen schneller erlegen zu sein als seine Kollegen anderer Fachrichtungen. Heute wird Gernsheim eher als Entdecker des Ursprungsmythos der Fotografie, als Bewahrer und unermüdlicher Sammler gesehen und sein Werk als eine der großen Erzählungen der Geschichte der Fotografie gewürdigt.

Vom Sammeln, Archivieren und Ausstellen ins praktische Fach. Die Grundprinzipien der fotografischen Arbeit von Andreas Feininger, 1906 als ältester Sohn des gerne von ihm portraitierten Malers Lyonel Feininger in Paris geboren, sind Klarheit, Einfachheit und Organisation. "Keep ist simple", lautete sein Credo. Am Bauhaus in Weimar zu Beginn der zwanziger Jahre zum Kunsttischler ausgebildet, studierte er anschließend an den staatlichen Bauschulen in Weimar und Zerbst Architektur. Zunächst Architekturfotograf in New York, emigrierte er mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nach New York.

Als Bildredakteur beim "Life"-Magazin angestellt, hielt Feininger immer wieder Straßenschluchten, Wolkenkratzer, Brücken und Hochbahnen in atmosphärisch dichten, mittlerweile zu Klassikern gewordenen Aufnahmen fest. Mit derselben Begeisterung widmete er sich den Naturstudien. Seine Detailaufnahmen von Insekten, Blumen, Muscheln, Holz und Steinen verleihen den Gegenständen der Natur einen skulpturalen Charakter. "Wenn man die Arbeiten aus diesen beiden Welten vergleicht", schreibt Thomas Buchsteiner in seinem Begleittext, "hat man manchmal den Eindruck, Feininger vergleiche die Tektonik der Großstadt mit der von Naturelementen, analysiere florale, gewachsene Konstruktionen und urbane Organismen."

Feiningers Fotografie ist direkt, die Motive wirken unverstellt. Wo sie sich komplexen und bewegten Strukturen widmet, zum Beispiel dem Straßenverkehr oder Menschenmassen, greift der Fotograf ordnend in sie ein. Feininger, im Übrigen ein großer Verehrer der Musik Johann Sebastian Bachs, findet an Symmetrien und gerade Linien größeren Gefallen als am Ungefähren wie der vernebelten Brooklyn Bridge, der Dunstglocke über den Straßen von New York oder den im Schneesturm dekonturierenden Häuser. Wie ein ideales Motiv muss ihm der "Skyscraper under Construction" vorgekommen sein, dessen noch unverkleidetes Stahlskelett wirkt wie ein gigantischer Setzkasten.

In diesen hinein hätte der Fotograf gleich auch die Protagonisten seiner Naturfotos verpflanzen können, denn auch die abgelichteten Pflanzen, Bäume und sonstigen Details aus der belebten und unbelebten Natur streben nur nach Ordnung, Harmonie und Wiederholung. Sie sind, wie die Redwood Trees im kalifornischen Humboldt Redwood State Park, längst zivilisiert und der menschlichen Verfügung unterworfen. Die Monografie gibt mit einer Vielzahl Duplexbilder einen Überblick über das Werk des 1999 verstorbenen Fotografen.

Der Band "Cruel and Tender" vereint Arbeiten von über zwanzig Fotografinnen und Fotografen, die im Bereich der wirklichkeitsbeschreibenden Fotografie im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert stilbildend gearbeitet haben bzw. arbeiten. Die Herausgeber präsentieren Werkgruppen von Robert Adams, Diane Arbus, Lewis Baltz, Bernd und Hilla Becher, Philip-Lorca diCorcia, Rineke Dijkstra, William Eggelston, Walker Evans, Robert Frank, Lee Friedlander, Paul Graham, Andreas Gursky, Boris, Mikhailov, Nicholas Nixon, Partin Parr, Albert Renger-Patzsch, Thomas Ruff, August Sander, Michael Schmidt, Fazal Sheikh, Stephen Shore, Thomas Struth und Garry Winogrand.

Alle diese Künstler sind besonders an der Darstellung ungeschminkter Realität interessiert. Ihre Beiträge sind formal betont sachlich und leidenschaftslos, lassen aber bei genauerer Betrachtung deutlich persönliche Handschriften sowie ein ausgeprägtes Interesse am Aufnahmegegenstand erkennen. Auf dieses Paradoxon von Distanz und Engagement weist auch der Buchtitel hin, der sich auf eine Bemerkung von Lincoln Kirstein bezieht, der die Arbeit des amerikanischen Fotografen Walker Evans treffend als "zärtliche Grausamkeit" (tender cruelty) charakterisiert hat.

Die aus räumlicher Distanz geschossenen Fotos von Industriebauten zum Beispiel können fast zärtlich wirken, wenn die technische Anlage darin zum Protagonisten erhoben und mit Präzision und Sorgfalt inszeniert wird. Umgekehrt entfalten scheinbar banale Details - Strand- und Treibgut unserer Konsumgesellschaft - eine fast hysterische Wirkung, da sie uns an die Exzesse unser Überproduktionsgesellschaft erinnern. Auf wieder anderen Bildern wird der Betrachter durch spezielle Verfahren der Farbsättigung und die ergo stärkere Expressivität und Emotionalität einem Sog ausgesetzt, der den Bildinhalten - Entfremdung, Einsamkeit und Sehnsucht - geradezu zuwiderläuft. Noch komplexer wird das Spiel mit Nähe und Distanz, wenn Bilder, wie bei Andreas Gursky zu beobachten, aus Versatzstücken verschiedener Aufnahmen entstehen und die ästhetische Konstruktion von Realität hinter die Techniken der dokumentierenden Fotografie zurücktritt.

Auf insgesamt 40 mittelformatigen Farbfotografien schickt uns Walter Niedermayr in die Welt des ewigen Eises: auf den über 3.000 Meter hoch gelegenen Titlis-Gletscher, der sich stolz über die Begrenzung von Raum und Zeit erhebt. Nur die Menschengruppe, die sich in bunter Freizeitkleidung und mit geschultertem Rucksack in der entrückt wirkenden Landschaft bewegt, zeugt von einem zivilisatorischen Eingriff. Sie transformiert den alpinen Raum - ehemals Paradigma einer Ästhetik des Erhabenen - in einen trivialen Freizeitort, der von den Grenzen des Konsums bestimmt wird.

Niedermayrs Kamera fängt die Aura einer Berglandschaft ein, die zum gemeinhin zum Mythos verklärt wird. Und sie bekräftigt diesen Mythos. Denn die Menschlein, die da beieinander stehen, fotografieren, sich unterhalten, auf aufblasbaren Reifen durch den Schnee rutschen oder auch einmal in Richtung Fotoapparat grienen, erinnern an Marionetten auf einer viel zu großen Bühne. Sie haben hier nichts zu suchen. Und weil den Protagonisten das weder unter die Schneemütze, noch in den Kopf will, wirkt ihr Treiben so peinlich wie ein Saufgelage vor dem Altar einer Kirche.

Auch die okkupierte Natur setzt sich zur Wehr. Sie tut das, indem sie den Besuchern förmlich den Boden unter den Füßen wegzieht und ihn wie auch den Himmel auflöst in eine homogene weiße Fläche. Sie ist das Sinnbild der Auflösung. Wer hier wo steht, ist nur noch anhand der Größenverhältnisse der Personen zu erahnen. Jetzt springt das Weiß auch die Touristen selbst an. Mal lässt es eine Jacke fadenscheinig werden, mal frisst es einen Kopf, mal amputiert es ein Bein. Durch die Auflösung von Vorder- und Hintergrund entstehen flächige Strukturen, eine gespenstische Welt, die niemand mehr betreten kann. Auch die Grenze der Abbildung zersetzt sich, als wolle die Natur noch aus dem Käfig der Fotografie ausbrechen.

Aber man kann die Blickrichtung auch umkehren. Bei Niedermayr gibt es keine Natur mehr. Das, was das Restaurant samt Aussichtsterrasse und hochalpinem Vergnügungspark vom Gletscher übrig gelassen hat, ist ein künstlicher Raum. Dieser hat die Natürlichkeit der Bergwelt so nachhaltig entwirklicht, dass selbst die klassische Panoramaperspektive hinfällig wird: Niedermayr muss den Bildraum permanent vervielfältigen und mit neuen Perspektiven durchsetzen, um der Offenheit und Grenzenlosigkeit der menschengemachten Kunstwelt etwas entgegenzuhalten.

Dokumentieren die Arbeiten Feiningers das Bedürfnis nach Zivilisierung und Bemächtigung, und erlaubt "Cruel and Tender" eine wenigstens teilweise Distanzierung, so beginnen sich die Menschen in den Fotografien von Niedermayr mehr und mehr in das Element Schnee aufzulösen. Oder, wie in der zweiten Lesart vorgeschlagen, der Schnee in das Menschliche. Die Fotografien von Guido Baselgia gehen noch einen Schritt weiter. Unter dem Titel "Weltraum" untersucht der Schweizer Fotograf den Norden Finnlands und Norwegens zwischen Polarkreis und Barentsee. In Baselgias ereignislosen und karstigen Moränenlandschaften berühren sich Urgeschichte, Gegenwart und eine mögliche Zukunft: Die Natur ohne den Menschen. Das Ende der Welt.

Diese Bilder zeigen eine kalte Wüste: weite Ebenen, Geröllhalden, Eiszeit-Tundren. Flächen, die sich schier endlos vor dem Betrachter ausbreiten. Nahaufnahmen mit Anlagerungen von Flechten und Eis. Bedrückende Monotonie, so weit das Auge reicht. Die Natur als Textur von Steinen und kargem Bewuchs, in die sich Schneeverwehungen hineinschmiegen. Aufgenommen auf irgendeinem fremden Planeten, fotografiert mit einer Kamera der dritten Art. Existierten hier Menschen, so würden die kalten Nebel sie einholen, das Gestaltlose nach ihnen greifen, die Schwaden sie überrollen. Ohne Orientierung würden sie umherirren in der trostlosen, schlammigen Unwegigkeit des angetauten Permafrosts.

Doch Baselgias Bilder sind Bilder ohne Betrachter. Seine Welt erstrahlt in homogener Schärfe, ohne stabiles Zentrum oder idealen Standort. Sein Fotoapparat verwandelt das Bekannte ins Unvertraute und Unwirtliche. Nach dem Rückzug der Gletscher liegen 3.100 Jahre Erdgeschichte offen zutage. Keine Berge und Schluchten, nur der gleichförmige Wechsel von Hügeln und Tälern. In den Steinen erstarrte Bewegung, über die sich ein hypnotisierendes Licht ausbreitet. So sah sie aus, die Urnatur. Und so wird sie immer noch aussehen, wenn das Rad der Geschichte längst über ihre menschlichen Besatzer hinweggerollt sein wird.

Die Fotografien Baselgias leisten nicht Geringeres als die Dekonstruktion einer längst konventionalisierten Landschaftsdarstellung. Der fotografische Abstraktionsprozess bewirkt eine Abkehr vom anthropomorphen, auf die menschliche Gattung und ihre Hervorbringungen fixierten Blick, hin zu einer befreiten und befreienden Sichtweise. Hätte diese Öde und Leer eine Geschichte zu erzählen, so würden dazu drei Worte ausreichen: Es war einmal.

Titelbild

Thomas Buchsteiner / Otto Letze (Hg.): Andreas Feininger: That's Photography.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2004.
320 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3775714294

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Titelbild

Thomas Eski / Emma Dexter (Hg.): Cruel and Tender. Zärtlich und grausam - Fotografie und das Wirkliche.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2004.
288 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 377571359X

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Titelbild

Alfried Wieczorek / Claude W. Sui (Hg.): Helmut Gernsheim. Pionier der Fotogeschichte.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2004.
376 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3775713808

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Titelbild

Walter Niedermayr: Titlis.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2004.
96 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3775714057

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Titelbild

Guido Baselgia: Weltraum.
Herausgegeben vom Kunsthaus Zug.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2004.
96 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 377571412X

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