Eine Räuberleiter ins Gedicht

Über Andreas Thalmayrs Einstiegshilfe in die Lyrik

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer erinnert sich nicht an Schulstunden, in denen unwillig und unbeholfen ein Gedicht rezitiert werden musste, und an die Frage der Deutschlehrerin, die wie das Amen im Gebet darauf folgte: "Was will uns der Dichter damit sagen?"

Spätestens in diesem Moment steigt in einem Schüler Widerwille auf, und deshalb packt "Lyrik nervt" diesen Stier bei den Hörnern: Es bekämpft die Berührungsangst mit dem Gedicht, das in der Schule vielfach als hohe, von Säulenheiligen geschaffene Kunst vermittelt wird, und es vertreibt die Unlust, die eine solche Pädagogik verursacht.

Andreas Thalmayr alias Hans Magnus Enzensberger hat das Buch seinen Töchtern gewidmet. Der Umschlag - ein rotes Kreuz auf weißem Grund - signalisiert, dass es über den Einsatz bei Gymnasisten hinaus Hausbuch sein sollte, allzeit bereit wie eine Apotheke mit Pflastern und Sicherheitsnadeln. Auf die handfeste Art, wie Enzensbergers freudvolles Mathematik-Bilderbuch (mit Rotraud Berners roten Teufelein) "Der Zahlenteufel" die Lust auf Algebra entfacht, weckt darin der "Ratgeber für gestreßte Leser" nun auch die Freude an Gedichten: Wer ihn liest, möchte zugreifen, nachfassen, mitmachen. Freilich kann man sich für dieses Unternehmen nichts lieber wünschen als Thalmayrs weites Herz für alle Erscheinungsformen des Gedichts. Ob edelmütig, frech, raffiniert oder unbeholfen - er bringt sie alle auf, um "Gedicht", Reim und Metrum zu erklären und nicht zuletzt vorzuführen, dass es Gedichte immer und überall gab, weil sie einem Bedürfnis des Menschen nach Ordnung der Dinge mithilfe einer der Sprache eignenden Musik entspringen.

Leichthin und locker - eben: cool - zieht Thalmayr für die Parade dessen, was in der Lyrik schon probiert wurde, einen bunten Mix aus unglücklichen, überschäumenden, verliebten, verworrenen und ganz strengen Gebilden aus seinem unerschöpflichen Sack, darunter schlechte neben bekannten Beispielen und - worin wohl sein pädagogisches Bemühen besonders deutlich wird - gelungenen neben schwachen Gedichten ein- und derselben Dichter. Er nennt Kinderreime, Werbesprüche und Popsongs als gebrauchspoetische Ohrwürmer, von denen jeder von uns eine Menge hortet, und nimmt damit dem aus der Schule verpönten Gedicht jeden abschreckenden Nimbus.

Wo sein "Das Wasserzeichen der Poesie" mit so manchen exotischen Beispielen die Bandbreite poetischer Verfahren illustriert hat, führt "Lyrik nervt" anschaulich und lebensnah vor, was ein Gedicht ausmacht und wie es zu seiner Form findet - und dennoch lässt er, ganz ohne den (jungen) Leser zu ermüden oder zu langweilen, nichts von dem aus, was sich auch in den Lesebüchern als "Best-of" der deutschen Dichtung findet.

Titelbild

Andreas Thalmayr: Lyrik nervt.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
120 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3446204482

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch