Zwischen älterer und neuerer deutscher Literatur?

Ein Festband versammelt Hans-Gert Roloffs Forschungen zur Literatur des 16. Jahrhunderts

Von Jürgen FröhlichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Fröhlich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem vorliegenden Festband haben Schüler Hans-Gert Roloffs dessen Studien zur Literatur des 16. Jahrhunderts aus gut drei Jahrzehnten versammelt. Eine Übersicht über die wissenschaftliche Beschäftigung Roloffs mit der lang vernachlässigten Literatur zwischen den 'Höhenkämmen' Mittelalter und Sturm und Drang bietet die kurz gehaltene Einleitung der Herausgeber. Sie informiert darüber, warum es sinnvoll sein mag, zwischen der 'Älteren Deutschen Literatur' und der 'Neueren Deutschen Literatur' ein Studiengebiet 'Mittlere Deutsche Literatur' zu etablieren, dies vor allem aufgrund wesentlicher Neuerungen wie bspw. der "Entstehung des Frühneuhochdeutschen [...] und Neulateinischen" sowie "städtischer Produzenten- wie Rezipientenschichten", der "Neugestaltung antiker und mittelalterlicher literarischer Muster", einer "experimentell blühende[n] Formenvielfalt" und der "Neugründung der Literatur in Rhetorik und Poetik". Neben diesen literaturaffinen Beispielen werden auch außerliterarische Aspekte genannt: "Erfindung der Zentralperspektive", "Erfindung des Druckes von Bildern und von Texten mit beweglichen Lettern", "die Entstehung des Verwaltungsstaates" u. ä. m.

Angesichts der Fülle von Einzelthemen kann es hier nicht darum gehen, den Inhalt der Texte zusammenzufassen. Daher seien hier die Schwerpunkte exemplarisch besprochen:

Der Eingangstext mit dem Titel "Der menschliche Körper in der älteren deutschen Literatur" (Erstpublikation 1983) versucht, sich dem Phänomen von Körper und Sprache aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu nähern, und zwar, "wie der Mensch zu verschiedenen Zeiten in der Sprache ein Bezugssystem zwischen seinem Körper oder einzelnen Körperteilen und seiner Sprache als dem Ausdruck seines Willens zu errichten trachtete". Es geht hier vor allem um Körpermetaphern. Für die Zeit bis zum 17. Jahrhundert verweist Roloff kurz auf spätantike und christliche Aspekte einer "Entwertung des Leibes"; diese grundlegenden Gedanken überführt er in eine Typologie des Komplexes 'Körper' in der älteren Literatur.

Deutlicher als im Eingangstext vertreten die folgenden Texte das Bestreben Roloffs, die Literatur des 16. Jahrhunderts als eigenständiges Phänomen zu betrachten. Roloff liest den frühen deutschen Prosaroman als Rezeptionsliteratur eines neuen Rezipientenkreises ("Bürgertum") mit eigenem Ausdrucks- und Assimilationswillen. Zu Unrecht habe die ältere Forschung die literarischen Leistungen der Zeit gering geschätzt. Vielmehr sei "vieles scheinbar Abstruse in ganz bestimmter Weise funktional bedingt und nicht zufällig-ungeschickt", und so plädiert Roloff unter Rückgriff auf Autor-Biografie, Motiv-Geschichte, Figuren-Analyse, Sprach- und Strukturanalyse für "eine gerechtere Würdigung" von Texten wie Thüring von Ringoltingens "Melusine", Veit Warbecks "Schöne Magelona", der Romane Georg Wickrams oder des Faust-Buchs von 1587.

Neben der epischen Gattung stand auch das Drama der Zeit zwischen Mittelalter und Aufklärung im "Schatten des Interesses". Immer wieder betreibt Roloff Grundlagenforschung im besten Sinne: "Daß sich im deutschen Bereich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts [...] eine Theatromanie herausbildete, die ihresgleichen nicht wieder in dieser Fülle und Vielfalt erreicht hat, ist merkwürdigerweise bisher wenig zur Geltung zu gekommen." Die sprachlich vermittelte Bildlichkeit des Dramas gehe weit über die Kommunikationsebene des Wortes hinaus und habe in der Tropizität der Rhetorik ihre poetologische Grundlage, die allerdings hinsichtlich einer "allgemeine[n] Bildfreundlichkeit" überschritten wird: in Bildgedichten, der Bildsprache der Reformationspropaganda und eben der szenischen Bildlichkeit des deutschen Dramas im 16. Jahrhundert (Brant "Tugent Spyl", Manuel "Vom Papst und seiner Priesterschaft", Naogeorg "Tragoedia nova Pammachius", Raber "Ain Recht das Christus stirbt").

Im Abschnitt zur Reformationsliteratur und -propaganda beleuchtet Roloff bis dato vernachlässigte Bereiche. Er verweist in einem umfangreichen Artikel auf Luthers literarische Leistung und verdeutlicht die bislang nicht in Betracht gezogene Funktion des Editoren, der im literaturwissenschaftlichen Schema von Autor-Werk-Rezipient zunächst kaum Beachtung fand, wohl aber besonders mit der Edition von pro-reformatorischen - nicht selten polemischen - Texten wesentlich zur öffentlichen Meinungsbildung beitrug.

Das letzte große Kapitel dieses Sammelbandes ist dem Werk Thomas Naogeorgs gewidmet. Hier erweitert Roloff das Korpus 'humanistischer' Literatur um die neulateinische Komponente. Naogeorg steht an der Schnittstelle von Humanismus und Reformation, und Roloff zeigt gleich in mehrfachen Studien, "in welcher Weise sich ein reformatorischer Theologe in seinem literarischen Werk mit der antiken Tradition einließ und wie er mit ihr umging".

Die von den Herausgebern gewählte Zusammenstellung von bislang verstreut publizierten Texten veranschaulicht beeindruckend ein wesentliches Forschungsinteresse Hans-Gert Roloffs: die "von ihm initiierte und durchgesetzte Etablierung des Studiengebietes 'Mittlere Deutsche Literatur'".

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Hans-Gert Roloff: Kleine Schriften zur Literatur des 16. Jahrhunderts. Festgabe zum 70. Geburtstag.
Herausgegeben von Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr und Wolfgang Neuber.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2003.
434 Seiten, 100,00 EUR.
ISBN-10: 904208067
ISBN-13: 9789042008069

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