Darstellungsmöglichkeiten einer unsagbaren Wahrheit
Bettina von Jagows Arbeit zum Umgang mit dem Mythos im Werk von Ingeborg Bachmann
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseNachdem sich Joachim Hoell vor einigen Jahren der "mythenreichen Vorstellungswelt" im literarischen Werk Ingeborg Bachmanns gewidmet hat (vgl. literaturkritik.de 03/2002), beleuchtet Bettina von Jagow nun die "Ästhetik des Mythischen" im Œuvre der österreichischen Autorin.
Bachmann entwarf im Schlusskapitel ihrer, wie sie sagte, "gegen Heidegger" geschriebenen Dissertation das "Konzept einer poetischen Sprache", das von Jagow zufolge zum einen die Fähigkeit der Kunst beschreibt, "Zeugnis äußerster Darstellungsmöglichkeit des 'Unsagbaren'" zu sein, und zum anderen das Bedürfnis des modernen Menschen betont, "diese[n] anderen Wirklichkeitsbereich" auszudrücken oder ihn doch zumindest ausgedrückt zu sehen. Dieses Konzept, poetische Sprache in Analogie zu mythischer Rede setze, habe Bachmanns literarisches Schaffen fortan "geprägt". Mythische Rede resultiere aus einer poetologischen Reflexion, die in Ingeborg Bachmanns Werk als "Konzept des Mythischen" auf historischer Ebene "zwischen Sprachskepsis und Sprachhoffnung", auf systematischer Ebene "zwischen Wirklichkeit und Imagination" situiert sei. Die Arbeit mit Mythen und mit mythischer Rede ziehe sich daher als "Problemkonstante" durch das gesamte Œuvre der in zahlreichen Gattungen tätigen Autorin. Kennzeichnend für Bachmanns Poetologie des Mythischen, die eine Poetologie der Bewältigung sei, sei das Zusammenspiel von mythischer Rede als imaginärem Substrat und als historischem Kontext. Ihm geht Jagow in Bachmanns Gedichten, Hörspielen, Erzählungen und im "Todesarten"-Projekt nach.
Von Jagow durchschreitet Bachmanns Œuvre nicht chronologisch nach Entstehungs- oder Veröffentlichungsdaten, sondern beginnt ihre Untersuchung mit dem Roman "Malina". Entgegen der üblichen Lesart liest sie die titelstiftende 'Figur' nicht als 'männlichen' Anteil der Ich-Figur, sondern als 'reale' Figur und spricht von einer "Dreiecksgeschichte" zwischen Ich, Malina und Ivan. Diese Lesart führt zwar gelegentlich zu nur wenig überzeugenden Auslegungen ("Indem das Ich aus 'Malina' mit Malina zusammenlebt, ist die Liebe zu Ivan bereits ein Tabubruch."), doch spielen diese für Jagows zentrale Argumentation, derzufolge mythisches Erzählen in dem Roman eine "besonders komplexe Ausformung" erfahren habe, kaum eine Rolle.
Der Untersuchung des Romans folgen Abschnitte zum "Mythos als Narrativ", dem "Reflex mythischer Rede", den "Topographien im literarischen Gedächtnis nach 'Auschwitz'" sowie eine Zusammenschau von Bachmanns Differenzdenken mit Derridas Denken der différance, wobei der Abschnitt über den Mythos als Narrativ hinsichtlich der Einzelinterpretationen wohl als besonders überzeugend gelten kann. Anhand dreier "exemplarisch[er]" Beispiele legt von Jagow dar, dass und wie Bachmann in dem Gedicht "Dunkles zu sagen" eine Mythe ästhetisch neu formuliert, interpretiert den Isis und Osiris-Mythos im Nachlass-Fragment "Das Buch Franza" als Ausdruck der "Unmöglichkeit des Fortschreibens von Mythen" und liest die Erzählung "Undine geht" als "äußerste Verformung" eines Mythos.
Bachmanns Poetik des Mythischen, resümiert die Autorin, erweise sich als Teil einer Ästhetik, die in metaphorischer Sprache über Gegenstände und Tatsachen spricht, die einer "angemessenen Darstellung in der Begriffsprache" nicht zugänglich sind. Dabei fungiere mythische Rede als "Daseinsmetapher", die zugleich Sprachkritik und "glückliches Komplement wissenschaftlicher Erklärung" sei. So gelinge Bachmann ein "Übertritt" in eine neue Sprache, die eine Poesie nach Auschwitz ermögliche, indem sie in zwei Richtungen - eine "dialektische" und eine "dynamische" - ziele. Während das "dialektische Modell" "zwischen Erinnern und Vergessen" pendele und mythische Rede auf ein "imaginäres Substrat" zurückführe, das Einbildungskraft an kulturelles Wissen binde, entwickele das "dynamische Modell" sprachliche Bilder und erprobe eine Gegenwelt in Form utopischer Inhalte und Rede, die "mythisches Denken als mögliche Darstellung aporetischer Denkfiguren" entwerfe. Mythische Rede fungiere so nicht mehr nur als "narrative Bewältigung anthropologischer Grundfragen" oder "sozialer Aporien", sondern diene darüber hinaus als "Darstellungsmöglichkeit einer unsagbaren Wahrheit".
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