Nur ein Wallerer auf der Erde

"Die Leiden des jungen Werther" in der Inszenierung von Nicolas Stemann

Von Helmut SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helmut Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ach könntest du dem Papier einhauchen, was so voll, so warm in dir lebet." Ausdrücken, was dich bewegt. Liebe etwa, oder Verzweiflung. Das Innerste sagen? Heute fordern Talkshow-Hosts ihre desperate Klientel dazu auf. Die billig produzierten falschen Gefühle lehren Verachtung, Hohn und Spott sowie den Verdacht, dass alles, was es gibt auf Erden, fake sei. Die Einschaltquoten stimmen.

In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte der junge Johann Wolfgang von Goethe mit seinem Versuch radikal subjektive Erfahrung auszudrücken unverhofften Erfolg. Der erste deutschsprachige europäische Bestseller faszinierte derart, dass er viele Zeitgenossen zur naiven Identifikation mit dem unglücklichen Werther verführte. Die Liebesgeschichte ohne Happyend, mit ihren Angriffen auf die bürgerliche Gesellschaft, ihrer Naturschwärmerei und ihrer Darstellung des gerade modern gewordenen Genie-Kults steht bis heute im Pflichtkanon deutschsprachiger Gymnasiasten. Allein denen erscheint, gewöhnt an die neuzeitig-grobe Fernsehkost, Goethes angedeutete Erotik lachhaft und seine Sprache oftmals zu manieriert und in seiner Komplexität nur schwer zugänglich.

Immerhin gibt es Versuche, den Klassiker der melancholischen Verzweiflung zeitgerecht zu präsentieren. Da gibt es die Möglichkeit, sich die Briefe per Email senden zu lassen und Werther so, wie von Goethe gefordert, unsere Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale unsere Tränen nicht zu versagen. Aus Anlass des 250. Geburtstages von Charlotte Buff erschien eine wenig aufregende Hörfassung, gelesen von Wolfgang Tischer, und endlich die hier zu besprechende Inszenierung Nicolas Stemanns. Ihr Titel "Werther!" gibt zugleich ein Programm vor: Der Text ist radikal gekürzt und das Deklamatorisch-Dramatische zur Spitze gesteigert.

Der mit dem Mülheimer Dramatikerpreis 2004 ausgezeichnete Regisseur hat für seine Inszenierung des Briefromans im österreichischen Schauspieler Philipp Hochmair einen überzeugenden Protagonisten gefunden. Ihm gelingt es bewundernswert, den inszenierten Spagat zwischen Rokoko und Gegenwart leicht und aufregend erscheinen zu lassen. Stemanns Fassung, mit großem Erfolg auf vielen großen Bühnen in den deutschsprachigen Ländern aufgeführt, ist nicht nur eine mit Musik garnierte Vorlesung der alten Briefe, sondern eine souveräne Aneignung des Goethe'schen Frühwerks, gelungenes Regietheater.

Vor einer ironischen Abstand erzeugenden Hörkulisse, die die Vorstellung eines nicht still sitzen könnenden, gehetzten Werther vermittelt, wirkt der stark zusammengestrichene Goethe-Text frisch und zugleich komisch. Nicht zu Unrecht halten Theaterrezensenten fest, Werther fühle sich wie im Road-Movie. Die Musikwahl vom Country-Song bis zum Hochzeitsmarsch unterstreicht besonders die anachronistische Heutigkeit der dramatischen Story. Werther erweist sich zugleich als humorvoll, verspielt kalauernd und wienerisch todesverliebt. Seine Sätze über das "einförmig Ding, das Menschengeschlecht" könnten nicht besser passen, seine Liebe ist die eines Heiligen ("Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen aufspart.") in einer gottlos gewordenen Zeit. Voller Unglauben hören wir das wiederholte "Glücklich allein ist die Seele, die liebt."

Werther zitiert seinen Homer, verzichtet auf Ossian und gibt eine kabarettistische Variante von "Oh Tannenbaum" zum Besten. Aber das Lachen bleibt irgendwie doch im Halse stecken, schließlich haben wir Zuhörerinnen und Zuhörer aufmerksam die vielen Vorausdeutungen auf den Suizid mitbekommen und ja auch schon einmal das Original gelesen. Wenn Stemanns Arbeit und die Schauspielkunst Hochmairs dazu verleiten, wieder bei Goethe selbst nachzulesen, haben sie vieles erreicht. Eine unterhaltende knappe Stunde Werther-Verwertung bietet die CD auf jeden Fall.

Das beigelegte Booklet enthält die üblichen Angaben über Stemann und Hochmair sowie einige Auszüge aus der wohlmeinenden Presse, ist also von der Werbeabteilung gestaltet und nicht das Werk eines Dramaturgen. Werther hätte sich darüber sprachgewaltig erregen können.

Titelbild

Werther! Nach Johann Wolfgang von Goethe. 1 CD. Ein Hörstück nach einer Inszenierung von Nicolas Stemann.
Herzrasen Verlag, Berlin 2004.
52 Minuten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3937362002

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