Was heißt "Darstellen"?

Petra Bahrs religionsphilosophische Antwort auf eine literaturtheoretische Frage

Von Frauke BerndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frauke Berndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntermaßen erweitert der Begriff der Darstellung die Semiotik, die innerhalb des rationalistisch-semiotischen Paradigmas der Repräsentation argumentiert, um Aspekte, die das 'Andere' der Repräsentation, die materiale Existenz bzw. Verkörperung des Zeichens betreffen. Auf der Grundlage dieses Begriffs verlagert sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das Interesse von der Vernunft auf das Medium, vom 'Sagen' auf das 'Zeigen', d. h. von der am mathematisch-logischen Ideal ausgerichteten Erkenntnisphilosophie auf eine die Prozesse kultureller Poiesis umkreisende Philosophie der symbolischen Formen, bei deren Formulierung Poetologen philosophisch und Philosophen poetisch werden. Lessing, Herder oder Klopstock liefern veritable Darstellungstheorien, die von zwei Diskursivitätsbegründern flankiert werden: von Alexander Gottlieb Baumgarten auf der einen Seite, der in seiner "Aesthetica" (1750/1758) die Wissenschaft des sensitiven Denkens und Darstellens formuliert, und von Immanuel Kant auf der anderen, dessen "Kritik der Urteilskraft" (1790) die symbolische Darstellung in die Transzendentalphilosophie integriert. Dabei avanciert in beiden ästhetischen Systemen, denen die vorliegende Studie - ergänzt durch einen Exkurs zur Poetik der Schweizer Bodmer und Breitinger - ihre Aufmerksamkeit widmet, die Rhetorik zur philosophischen Propädeutik.

Nun hat auch die Theologie das Darstellungsparadigma für sich entdeckt - was nicht zuletzt in der Tatsache begründet liegt, dass sowohl Baumgarten als auch Kant ihren Darstellungsbegriff an einem metaphysischen Fluchtpunkt ausrichten, mit dem das alte Dispositiv der Rhetorik im neuen diskursiven Kontext der Ästhetik zur Diskussion steht. Das von der Literaturwissenschaft in den vergangenen zehn Jahren sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht gut bestellte Feld 'Darstellung' bietet der religionsphilosophischen Ernte reiche Früchte an. Daher setzt auch Bahr bei der so genannten performativen Wende ein, die heute das Fundament der rezenten Kulturwissenschaften bildet und deren Aktualität die Theologin bekräftigt: "Die Unhintergehbarkeit der Medialität des religiösen Bewußtseins, seine Zeichenpraxis und die Vielfältigkeit der symbolischen Formen, in denen die religiöse Optik auf die Welt thematisch wird, rückt mehr denn je ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Interesse richtet sich zunehmend auf nicht-diskursiv verfaßte Gestaltungs- und Ausdruckspraktiken, die nicht über das Sagen, sondern über das Zeigen bestimmt sind".

Diesen handlungstheoretisch fundierten Darstellungsbegriff entwickelt Bahr nicht anhand von Schleiermachers Religionstheorie und Ästhetik - traditioneller Anknüpfungspunkt theologisch-philosophischer Reflexionen -, sondern anhand von Baumgartens "Aesthetica". Als Kulturwissenschaft avant la lettre wertet die Ästhetik nämlich nicht nur die sensitive gegenüber der logischen Erkenntnis auf, sondern im gleichen Zuge sowohl die Anthropologie als auch die Metaphysik um, sodass die Kunst im Allgemeinen, die Poesie im Besonderen zum Prototyp einer Darstellung (Mimesis) werden, die das Nachahmungsparadigma revidiert. Kernstück ist die Konzeption der sinnlichen Vorstellung als darstellender (Zeichen-)Handlung, die an der rhetorischen Systemstelle der Evidentia sowohl einen medialen als auch einen wahrheitsfunktionalen Index erhält. Damit legt Baumgarten das systematische Fundament für eine Theorie der produktiven, gestaltenden Einbildungskraft, die bereits die Schweizer als Movens poietisch-praktischer Welterzeugung entdeckt haben.

In den drei Kritiken weist Kant dem Darstellungsbegriff die transzendentalphilosophisch vermessene Position als Medium zwischen Begriff und Anschauung zu. Die Theorie der symbolischen Darstellung entwirft Kant erst in der "Kritik der Urteilskraft", in der er das ästhetische Urteil als die Urteilsform, die ihr a priori im Gefühl (der Lust und der Unlust) hat, in sein System integriert. Der Begriff wird an der Stelle zum Politikum, an der einer ästhetischen Idee zwar keine unmittelbare Anschauung korrespondiert, die reflektierende Urteilskraft ihr jedoch eine solche unterlegen kann. Als Medium der Urteilskraft entgrenzt Kant die produktive Einbildungskraft zum selbstreflexiven Organ, sodass er im berühmten Paragrafen 59 diese Form der Medialisierung an der rhetorischen Systemstelle der Evidentia (Hypotyposis) transzendentalphilosophisch reformuliert. Damit rücken sowohl die religionstheoretischen Implikationen des Schönen als auch diejenigen des Erhabenen, die Kant diesseits physiko-theologischer Begründungszusammenhänge subjektiviert, in ein neues Licht.

Unterm Strich steht eine klar gegliederte Systematik des Darstellungsbegriffs, in der Bahr den symbolischen Modus des Subjekts zusammenfasst. "Die Art dieses Gewahrens ist kein theoretisches 'Wissen von', sondern ein begriffsloses Selbstgefühl des Grundes und des Gegründetseins, das den Überschuß im jeweiligen Welt- und Selbstverhältnis eindrücklich werden läßt". Dergestalt sind Darstellungsvollzüge: 1. individuell, 2. perspektivisch, 3. 'leibgebunden', 4. medial, 5. historisch, 6. kommunikativ, 7. traditionsbezogen. Diese sieben Aspekte sieht Bahr in den Reflexionsfiguren des Christentums - "von der trinitarischen Gottesfigur über die Inkarnation bis zur Unterscheidung von Gesetz und Evangelium" - topisch-tropisch gefasst, die solange nicht zu "Leerstellen" erstarren, solange die "Allgemeinplätze[]" in fortschreitenden poietisch-praktischen Handlungsvollzügen nachgeahmt, d. h. dargestellt werden.

Die ebenso kenntnisreiche wie stilistisch ungewöhnlich brillante Arbeit ist ein überzeugendes Beispiel dafür, dass Geisteswissenschaften dort, wo sie an einer interdisziplinären Schnittstelle argumentieren - im vorliegenden Fall an derjenigen von Rhetorik, Poetik, Ästhetik und Theologie - dennoch nicht zum kulturwissenschaftlichen Einerlei oder gar Allerlei verkommen müssen. Bahr vermag es vielmehr, ihre eigene Disziplin selbstbewusst und souverän an die Grenzen zu treiben.

Titelbild

Petra Bahr: Darstellung des Undarstellbaren. Religionstheoretische Studien zum Darstellungsbegriff bei A. G. Baumgarten und I. Kant.
Mohr Siebeck, Tübingen 2004.
332 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3161481798

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