Der Reiz des Faktischen
Neue Chronik zu Thomas Mann erschienen
Von Klaus-Peter Möller
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGert Heine und Paul Schommer, der Thomas Mann-Philologie bekannt durch ihre verschiedenen Arbeiten, haben eine neue "Thomas Mann Chronik" vorgelegt, erschienen im Verlag Vittorio Klostermann, der sich nicht nur mit seinen Einzeltiteln als wichtiges Podium der Thomas Mann-Forschung etabliert hat, sondern in dem seit Jahren auch deren wichtigstes Periodikum, das "Thomas Mann Jahrbuch", erscheint. In diese Reihe ordnet sich die neue "Chronik" - auch optisch - gut ein. Fast 50 Jahre nach dem Tod des "Zauberers" und 40 Jahre nach Erscheinen der Chronik von Hans Bürgin und Hans Otto Mayer, die immerhin so etwas wie ein Standardwerk der Thomas Mann-Forschung geworden ist, liegt damit ein neuer Versuch vor, das Datenmaterial zu Leben und Werk Thomas Manns in Form einer Chronik für Wissenschaftler und interessierte Laien aufzubereiten. Um wie vieles besser ist nun dieses neue Zahlenwerk? Ist es jetzt nötig geworden, die alte Ausgabe zum Altpapier zu tun, oder sie bei eBay billig zu verhökern? In welchem Verhältnis steht das neue Buch zu der eigentümlichen Gattung Personal-Chronik? Welche Besonderheiten zeichnen es aus, was kann man von ihm erwarten, was vermag es zu leisten und - wo sind seine Grenzen? Über diese Fragen muss sich der Rezensent Klarheit zu verschaffen suchen.
Schon die ersten Lektüre-Schneisen in den Daten- und Zitaten-Dschungel bringen es an den Tag: Dieses Buch ist alles in einem - chronikalische Auflistung der wichtigsten Fakten zu Leben und Werk, spannend zu lesende Biografie im Telegrammstil, problemlos zu handhabendes Nachschlagewerk, umfassender Forschungsbericht und fundierter Diskussionsbeitrag, mit dem zahlreiche Daten korrigiert oder in Frage gestellt werden, vergnügliches Florilegium und eigenwilliger Beitrag zur Gattung Personal-Chronik, die sich neben der Personal-Bibliografie und der herkömmlichen Biografie zunehmend als Instrument zur Darstellung bio-bibliografischer Daten emanzipiert. Ausgewertet wurde das gesamte Material zu Thomas Mann, soweit es ediert ist, die Bibliografien und Verzeichnisse, die Tage- und Notizbücher, die verschiedenen Briefwechsel, Biografien und biografische Werke zu Einzelaspekten, die Werk-Kommentare sowie die Erinnerungsliteratur um Thomas Mann. Ein beeindruckender Quellen-Korpus. Sinnfällig wird durch die Siglen-Liste dokumentiert, was alles seit der Chronik von Bürgin/Mayer von und über Thomas Mann neu erschienen ist. Das Resultat musste anders ausfallen als vor 40 Jahren. Verblüffend ist allerdings, wie groß der Unterschied auch an solchen Stellen sein kann, wo kein neues Material hinzugekommen ist oder Fehler zu korrigieren waren. Obwohl die Chronik eine auf das Faktische gestellte Datensammlung zur Vita einer Persönlichkeit ist, die ohne Interpretation und Ausfüllung von nicht dokumentierten Phasen auskommen muss, und obwohl jede Personal-Chronik auf die Totalität von Leben und Werk in ihrer Verwobenheit und gegenseitigen Bedingtheit abzielt, reklamieren Heine und Schommer das Recht auf Subjektivität für sich. Selbst bei dieser stark formalisierbaren Gattung sind mithin individuelle Ausprägungen denkbar, was etwa in der Goethe-Philologie demonstriert wurde durch die unterschiedlichen Projekte von Gert A. Zischka ("Tageskonkordanz der Begebenheiten") und Angelika Reimann ("Goethes Leben von Tag zu Tag"). Die Auswahl und die Anordnung des Materials machen den Unterschied!
Fokussiert ist die "Thomas Mann Chronik" von Heine und Schommer natürlich auf die wichtigsten biografischen Fakten und die Entstehung der Werke. Verzeichnet sind Begegnungen, Kontakte, Gesellschaftsereignisse, an denen Mann beteiligt war, Reisen, öffentliche Stellungnahmen, "vor allem auch seine Repräsentationspflichten [...] Vorträge und Lesungen, Teilnahme an Sitzungen von Gremien, Beteiligung an Aufrufen, Rundfragen und Protesten, Ehrungen etc." Besonderen Wert legten die Autoren auf die Beschreibung der Theater- und Kinobesuche. Verzeichnet werden jedoch nicht nur die nackten Fakten. So weit als möglich sollen die Eintragungen "ein lebendiges Bild von Tagesabläufen" vermitteln. Aus diesem Grund wurden den einzelnen Daten teilweise recht ausführliche Zitate beigefügt. "Unser Ziel war es, den Menschen und Dichter Thomas Mann möglichst in allen seinen Facetten zu zeigen. Dabei war es für uns unabdingbar, des Dichters eigene Stimme hören zu lassen. Würden wir darauf verzichtet haben, so wäre, dessen sind wir sicher, die Chronik ihrer größten Attraktion und auch eines großen Teils ihrer Authentizität und Lesbarkeit beraubt. Wo immer eine zusammenfassende, prägnante Aussage von Thomas Mann selbst zu einem Ereignis vorhanden war, oder wo ein solches Zitat einen eigenen Eintrag rechtfertigte, ist daher seine eigene Formulierung der bloßen Wiedergabe von Fakten durch die Chronisten vorgezogen worden." Doch nicht nur prägnante Worte des Autors werden eingerückt, das Faktengerüst wird auch durch zeitgenössische Reflexe wie literaturwissenschaftliche Äußerungen oder Zitate aus der Tagespresse angereichert, so z. B. durch den hinreißenden Zeitungsbericht von Leonhard Schrikel vom 18. Februar 1901 in der "Allgemeinen Thüringer Landeszeitung" über eine Lesung Manns vom Vorabend. Den Vorwurf einer gewissen Willkür müssen sich Heine und Schommer gefallen lassen, ja sie provozieren ihn geradezu. Tatsächlich enthält die "Thomas Mann Chronik" auch Mitteilungen, die ein annalistisches Werk im strengen Sinn entbehren kann. Von vornherein verwahren sich die Autoren bzw. Kompilatoren der Chronik gegen den möglichen Einwand, mitunter auch Belangloses mitgeteilt zu haben: "Die berühmte achtbändige Chronik 'Goethes Leben von Tag zu Tag' hat es auf etliche tausend Seiten gebracht, und wer möchte zu behaupten wagen, es stünde Überflüssiges darin?"
In Abgrenzung zu der Chronik von Bürgin und Mayer verzichten Heine und Schommer auf die Kennzeichnung von Lebens- und Schaffensabschnitten. Allein die Jahreszahlen ragen als Wegzeichen aus der Datenwüste heraus. Den Autoren ist zuzustimmen, es geht nicht anders, aber die Chronik von Bürgin und Mayer wirkte doch durch die kleinteiligere Gliederung und die in Form von Marginalien herausgestellten Werktitel übersichtlicher. Auch auf eine Beigabe von Bild-Dokumenten wurde in der neuen Chronik verzichtet. Die Angabe von Belegstellen nach Band und Seite der Frankfurter Ausgabe erweist sich als unproduktiv für diejenigen Mann-Freunde, die nicht in dieser Ausgabe nachschlagen können. Die von Bürgin und Mayer gewählte Form der Quellenangabe durch Kurztitel scheint besser geeignet, auch weil der Bezug zu dem entsprechenden Werk deutlich wird. Ein Literaturverzeichnis, das den gesamten Reichtum der benutzten Literatur überblicksartig zusammenfasst, fehlt in der Chronik von Heine und Schommer. Die Autoren schöpfen ihre Angaben nicht nur aus den zu Beginn der Chronik zusammengestellten und nach einem sinnfälligen Siglen-System zitierten Standard-Werken, sie haben darüber hinaus für einzelne Details zahlreiche weitere Quellen herangezogen, die an den entsprechenden Stellen angegeben sind. Immerhin sind diese Quellen durch das Personenregister zu erschließen. Dieser Verzicht mag also mit der allenthalben spürbaren Tendenz zu einer wohltuenden Beschränkung erklärt werden.
Bewusst haben Heine und Schommer von einer detaillierten Darstellung der Lektüre Thomas Manns abgesehen. Allerdings erscheint ihre Begründung für diese Entscheidung zweifelhaft. Die Erklärung, Rezensionen und Buchempfehlungen blieben unberücksichtigt, weil sie hauptsächlich aus Höflichkeit oder Nachgiebigkeit entstanden seien, befriedigt nicht. Überhaupt wird der ganze Bereich der Rezeption literarischer Werke ausgeklammert: "Des weiteren haben wir es nicht als unsere Aufgabe angesehen, die von Thomas Mann in der Vorbereitungszeit seiner Werke konsultierte Literatur zu erfassen, und, von Ausnahmen abgesehen, auch nicht die Bücher, die er vor dem Einschlafen gelesen hat." Wahrscheinlich haben quantitative Erwägungen diese Entscheidung notwendig gemacht. Die Darstellung der Lektüre und der von Thomas Mann verwendeten Quellen ist ein umfangreiches bibliografisches Projekt, das mit den Mitteln der Chronik nicht hinreichend gelöst werden konnte und den Rahmen dieses Werkes gesprengt hätte. Bedeutendere Lektüre- oder Hör-Erlebnisse - hier seien nur Schopenhauer und Wagner genannt - sind jedenfalls verzeichnet.
Ein besonderer Vorzug der neuen Chronik von Heine und Schommer ist die Nachprüfbarkeit jeder einzelnen Angabe. Nicht nur die Zitate sind nachgewiesen, das ist eine Selbstverständlichkeit, sondern auch die Herkunft sämtlicher Fakten. Das scheint ein Gattungsmerkmal zu sein, dem sich die Chronisten neuerdings verpflichtet fühlen, während früher die Benutzer den Datensammlungen ausgeliefert waren und oftmals keine Antwort auf die Frage erhielten, woher eine Information stammt. Das trifft auch auf die Chronik von Bürgin und Mayer zu. Als weiteres Beispiel sei auf die 1963 erschienene "Fontane-Chronik" von Hermann Fricke verwiesen. Auch ihre Nachfolgerin, 1998 von Christian Grawe publiziert, ist nicht frei von diesem Fehler. Erst die gegenwärtig von Roland Berbig erarbeitete "Fontane-Chronik" formuliert den Anspruch, die Quellen für jede Information nachzuweisen. Eine Folge ist, dass ungesicherte Daten gesondert gekennzeichnet werden müssen. Wie in der "Heine-Chronik" von Fritz Mende wurde von Heine und Schommer ein Sternchen für solche Eintragungen verwendet. Während dort jedoch zahlreiche Daten als ungesichert apostrophiert werden mussten, hat es den Anschein, dass bei Thomas Mann nur noch wenige Sterne vom Himmel zu holen sind. Gleichviel ob jemand einen davon erobern oder sich nur daran erfreuen will, die neue Chronik von Heine und Schommer wird in Zukunft als Hilfsmittel für jeden, der sich Thomas Mann und seinem Werk zuwendet, unverzichtbar sein.