Im Bergwerk der Geschichte
Neue Prosa von Volker Braun
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGeschichte hat, wieder einmal bei Volker Braun, einen Doppelsinn: als das, was er erzählt, und als der historische Verlauf, in den das Erzählte eingebettet ist. Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem ist indessen neu. 1974 bezeichnete die "Unvollendete Geschichte" das Zukunftsoffene beider Schichten und konnte das nicht erzählte Ende der kleinen Geschichte auf das Entwicklungspotenzial der großen Geschichte verweisen. Dreißig Jahre später konstatiert Braun abschließend das "Ende der Geschichte. - Geschrieben nach der Rückkehr in die Vorzeit." Nachdem der Kapitalismus weltweit triumphiert hat und jeder Versuch, zu etwas Neuem zu gelangen, gescheitert scheint, bleibt nur die literarische Vergegenwärtigung. Die Geschichte, um die es hier geht, "ist gelaufen und vorbei; und es bleibt, um dabei zu sein, davon zu erzählen."
Stoff ist die Geschichte jenes Orts Schwarzenberg, der schon Stefan Heym zu einem Roman angeregt hat. Im Mai und Juni 1945 weder von amerikanischen noch von sowjetischen Soldaten besetzt, existierte für sechs Wochen ein Gebiet ohne staatliche Ordnung. Ein fast anarchistisches Interesse scheint zunächst Braun anzuziehen. So ist eingangs die Rede von einer "herrschaftslosen Zeit", die man vergessen habe; nichts sei der Bevölkerung "von der Lust der Selbstbestimmung, dem Rausch der Gerechtigkeit" in Erinnerung geblieben.
Zum Glück bleibt Braun nicht bei solcher Verklärung. Auf den folgenden gut fünfzig Seiten ist von Jubelstimmung wenig zu spüren. Die Rede ist von mutigen Einzelnen, die im Machtvakuum die Initiative ergreifen und die örtlichen faschistischen Bonzen entmachten; die Mutigen sind Kommunisten, und so kämpfen sie auch gegen die Unternehmer, die am Krieg gut verdient haben. Die Rede ist aber auch von der Rollenverteilung, von patriarchalen Ordnungen unter den Befreiern, von nicht immer unproblematischen Verhandlungen mit den Besatzungsmächten in den angrenzenden Gebieten. Nicht verschwiegen ist das Problem, beim Aufbruch zwischen Verbündeten und Opportunisten zu unterscheiden; nicht verschwiegen sind auch die unterschiedlichen Perspektiven derjenigen, die anfangs vor Ort handelten, und der wenigen Kommunisten, die die Todesmärsche aus den KZs überlebt haben und nun zurückkehren.
Brauns Darstellung ist außerordentlich konzentriert. Eine Unzahl von Szenen ist eher skizziert als gemalt, dem Leser wird eine Orientierungsleistung abverlangt, die ihn beglücken kann: er selbst lernt die Geschichte, sie wird ihm nicht pädagogisch von oben serviert. Viele Sprachen, vom Dialekt und Soziolekt über das Zitat der Verwaltungssprache bis hin zur literarischen Hochsprache, sind gerade nicht verschmolzen, sondern vermitteln im dialektischen Gegeneinander gerade das Konflikthafte der Situation.
Diese Sprachen dementieren auch den utopistischen Gehalt, den der Erzähler zunächst behauptete. Keineswegs waren die 42 Tage "herrschaftslos". Wenn eine Gruppe sich zum Komitee der Verantwortlichen ernennt, ist das schon ein Akt der Herrschaft; wenn sie im "Rausch der Gerechtigkeit" Faschisten bestraft, übt sie staatliche Funktionen aus. Indem ihre Deklarationen sich der gewohnten Sprache bedienen, stellt Braun eine Kontinuität heraus, die notwendig ist: weil die Akteure, bei allem Unwohlsein, nie eine andere Verwaltung erlebt haben, und im Wortsinne: weil die materielle Not groß ist.
Auch hier lügt Braun Schwarzenberg nicht zum Paradies um; wie die Flüchtlinge aus dem Osten, die sich aufs unbesetzte Gebiet geflüchtet haben, weggeschickt werden müssen: das erzählt er als Zwang und Schande zugleich. Dennoch liegt im Ökonomischen eine der Schwächen des Modells. Nur vage ist der Tauschhandel erwähnt, mit dem die Versorgung der Bevölkerung sichergestellt wird, und gar nicht die Ebene der Produktion. Braun konzentriert sich auf das, was Literatur traditionell gestaltet: auf die Ebene des Bewusstseins. Er erfasst materialistisch, wie Gedanken und politische Einstellungen entstehen. In der kurzen Frist, die dem unbesetzten Gebiet blieb, konnte indessen nicht erprobt werden, woran die sozialistischen Länder dann scheiterten: eine konkurrenzfähige Organisation von Produktion und Verteilung. Offen bleibt im Modell auch, wie politische Gemeinsamkeit gewahrt bleibt, wenn nicht der immer noch drohende faschistische Feind dafür sorgt.
Der umfangreichen Erzählung, die vieles zeigt und manches nicht, sind in der zweiten Hälfte des Bandes "Das unbesetzte Gebiet" etwa vierzig Kurzprosastücke angefügt. "Im schwarzen Berg", so der Sammeltitel, finden Grabungen statt, durchaus metaphorisch; in die komplizierten Gesteinsschichten der Geschichte stößt Braun mit seinen Stollen vor. Dass Erdarbeiten auch als Arbeiten in den Tiefen einer Gesellschaft zu lesen sind, ist nicht neu bei Braun, doch hat sich das Motiv stets gewandelt. Stand 1959 die Arbeit in "Der Schlamm" für den mühevollen Aufbau einer neuen Gesellschaft, so war 1989 "Bodenloser Satz" ein Rückblick auf die ökologischen und menschlichen Verwüstungen, die dieser Versuch angerichtet hatte.
Nun, nach dem Abschluss aller Auseinandersetzungen, die auch Hoffnung bedeuten konnten, rücken manche Tiefen in märchenhafte Ferne: legenden-, anekdoten- und märchenhafte Geschichten von Max Hoelz etwa, einem kommunistischen Anarchisten, der die Mächtigen narrte, entziehen sich jedoch im Sprachgestus einer linken Trostliteratur, die stofflich droht. Wenige, kurze Texte sind zwar auf eine Pointe konzipiert, die platt bleibt: etwa die Überlegung, alle Arbeitslosen könnten sich doch Schellenkappen mit der Beschriftung "outdoor" zulegen. Zuweilen verselbstständigt sich auch die Bergwerksmetaphorik und fordert Braun den Weg in die Tiefe, ohne ihn selbst zu gehen. Doch das bleibt Ausnahme. Sprachliche Dichte und dialektische Zuspitzung machen auch im zweiten Teil des Buches Geschichte als widersprüchlichen Kampf von Herrschaft und Widerstand erkennbar. Hoffnung freilich bleibt dabei immer weniger. Eingangs heißt es noch: "Das bergmännische Verfahren, so sehr es im Dunkeln gräbt, ist das der Literatur gemäße, und auch die Freude, das Bangen, ein Licht anzuzünden (bei der Nacht), ist mir seit der Verdunklung im Krieg vertraut." Am Ende jedoch: "Ich bin mit der Kunst am Ende; nur die Übertreibung ist wahr, kein Theater mehr ohne die Vorstellung, daß es zur Hölle wird, keine Kunst ohne den Traum, die Wirklichkeit unmöglich zu machen."
Diesem Traum, die Wirklichkeit im zweifachen Sinne unmöglich zu machen: sie bloßzustellen und sie zugunsten einer besseren Wirklichkeit zu überwinden, widmet sich gleichwohl ein zweiter neuer, womöglich noch konzentrierterer Prosaband Brauns. Er erzählt zwei Kriminalfälle aus der Restaurationszeit im frühen 19. Jahrhundert, doch so, dass die Spannung sich nicht auf die Frage bezieht, wer es denn war. Beim ersten Fall, dem des "berüchtigten Christian Sporn", wird zwar erst allmählich klar, wer der Täter ist. Doch steht der junge Handlanger Otto in "Ein anderer Woyzeck" von vornherein als der Mörder seiner Geliebten, die zu heiraten ihm verwehrt wurde, fest, und es interessiert ohnehin viel mehr, wie die Umgebung auf Brandstiftung und Mord, wie die Beschuldigten auf den Verdacht und wie die Verurteilten auf den nahenden Tod reagieren.
Ein breites Spektrum möglicher Verhaltensweisen ist vorgeführt: Gehorsam oder Feigheit bei den Untertanen, aber auch genaue Kenntnis der Rechte, mutig kalkuliertes oder stumpf gewalttätiges Aufbegehren, Spitzelei und Ausweichen. Die vernünftige Gnade und Milde der Obersten, die den Feuertod in einfaches Enthaupten umzuwandeln geruhen; dann die Andeutung nicht einer Zeitenwende, denn dazu bräuchte es mehr, doch einer Abkehr vom allzu Groben, wenn der Scharfrichter sich drücken will und die Schützengarde zum Blutgericht nicht Spalier stehen will. Das Taktieren der mittleren Instanzen und die patriarchale Autorität, die im Anbruch einer anonymeren Neuzeit keine persönliche Wirkung mehr entfalten kann.
Ganz am Rande bleiben die Frauen, nicht zum Schaden der Texte, hatte doch in der Endphase der DDR, als Braun nach Auswegen für den Sozialismus suchte, er dem Weiblichen zuweilen etwas viel an utopischer Last aufgebürdet. Hanna, die Frau der Brandstifters, der vielleicht aus Eifersucht handelte, weil sie fremdging, wird als lebenskräftig und genussfähig nur eben soweit skizziert, dass sie eine bessere Möglichkeit zu leben andeutet, ohne einer Ideologisierung zum Opfer zu fallen. Immerhin ballt sie bei der Hinrichtung ihres Mannes die Faust, Widerstandssignal bei Braun seit dem "Hinze-Kunze-Roman" von 1985. Noch viel weniger erfährt der Leser über Wilhelmine, das Opfer Ottos. Die Liebe des "anderen Woyzeck" ist, soweit rekonstruierbar, blindwütig, ohne Blick für Individualität oder gar Wünsche des Objekts. Nur eben erahnbar wird, dass auch der Kleinbürgerhaushalt, dessen väterlicher Vorstand Otto die Tochter verweigert, gar so moralisch nicht ist.
Die Sprache der beiden Erzählungen ist neu in Brauns Werk. Der erst kritisch affirmative, dann auch parodistische Umgang mit Sprachmustern aus der DDR war nach 1989 nicht fortzuführen. Nach Werken des Übergangs und der Neuorientierung legte Braun 2000 mit "Das Wirklichgewollte" motivisch in sich und miteinander verschränkte Prosatexte in geradezu klassizistisch geschlossenem Stil vor. Die Kriminalerzählungen öffnen den Sprachraum, indem Braun Sprachmuster aus dem frühen 19. Jahrhundert, Umgangssprache bis hin zum Vulgären und zeitgenössische Verwaltungstexte in seine Darstellung einschmilzt. Dabei entsteht sprachlich ein Ganzes, das dem Leser auch darum einiges abverlangt, weil wichtige Informationen kaum herausgehoben sind. Allein die Vorstellung der Personen ist von geradezu Kleist'scher Rücksichtslosigkeit.
Beide Erzählungen enden mit dem Vollzug der Todesstrafe durch das Schwert. Der "berüchtigte Christian Sporn" steigt "mit stumpfem Blick, ohne ein Wort zu sagen oder sich durch Scham zu verraten" auf das Schafott, während Otto Reue und Mahnung verkündet: "Ein Aufklärer sprach, dem, als er so weit war und ganz zur Vernunft gekommen, der Kopf vom Rumpf getrennt wurde."
Stolz ist vor allem Ottos Lehrer, der berühmte Anwalt Döhnel, eine hell-sinistre Gestalt, der dem Todeskandidaten Herders "Briefe zur Beförderung der Humanität" zur Lektüre aufgab. Döhnel, als "Menschenfreund" gezeichnet, Verteidiger schon Sporns, kann bei Braun nie den Tod seiner Klienten verhindern, und rückt im zweiten Text zur Zentralgestalt auf. Ist die Geschichte Sporns nach Braun einfach nur "aus den Akten" erzählt, so gibt er vor, den "anderen Woyzeck" nach "Döhnels Darstellung" zu zeichnen. Mindestens ebenso aber zeichnet Döhnel sich selbst: als Zyniker, der nicht einmal weiß, dass er einer ist, wenn ihm die sinnlosen Erkenntnisse kurz vor dem Tod allenfalls als etwas zu "keck" vorgetragen scheinen. Diese Art der Aufklärung bedeutet keine Befreiung.
Ort der Hinrichtung 1823 ist der Marktplatz von Schwarzenberg; geografisch und motivisch sind die beiden neuen Bücher Brauns eng miteinander verknüpft. Eine bessere Aufklärung würde bedeuten, die Mächtigen zu entmachten, wie es 1945 für ein paar Wochen geschah. Ist aber das eine neue Herrschaft, ein neuer Staat dann? Das will Braun nicht und blickt doch materialistisch genug auf die Wirklichkeit, um schon für die wenigen Wochen in jenem Frühsommer die Notwendigkeit nachzuzeichnen. Die Frage, wie eine Herrschaft, die Befreiung bedeutet, aussehen könnte, lässt sich anhand der neuen Werke Brauns diskutieren. Dass eher aufscheint, wie sie nicht aussehen darf, liegt am bisherigen Verlauf der Geschichte. Dennoch mag sich Braun mit den aktuellen Staaten, ihrer Wirtschaftsordnung, ihren Kriegen und der weltweiten Verelendung der Mehrheiten nicht abfinden. Dass er sprachliche Möglichkeiten findet, die geschichtlichen Widersprüche als gegenwärtige zu erkennen, beweist auch seine neuen Texte als wichtigen Beitrag zu den Kämpfen der Gegenwart.
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