Gefangen in des Maestros postmodernem Nebel

Umberto Ecos neuer Roman "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana"

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zitate sind meine einzigen Leuchten im Nebel." Der dies sagt - Giambattista Bodoni, genannt Yambo, Ende 1931 geborener Antiquar und Ich-Erzähler in Umberto Ecos neuestem Roman - ist vor kurzem aus dem Koma erwacht. Im Nebel des Komas hat er einen Teil seines Gedächtnisses verloren. Sein autobiografisches Gedächtnis funktioniert nicht mehr. Er weiß alles über Alexander den Großen, zitiert Dante und Manzoni, erkennt aber weder seine Enkel, noch kann er sich an den Namen seiner Frau erinnern. Prousts Madeleines helfen ihm auf der Suche nach seiner Vergangenheit nicht weiter - er erinnert sich weder an Gerüche noch an Bilder oder Geschmäcker. Das einzige, was ihm bleibt, ist die Erinnerung an Wörter.

Sein Gedächtnis aus Papier behindert ihn im wiedergewonnen Leben. Nicht nur weil er gerne wüsste, ob er mit seiner hübschen Antiquariatsgehilfin ein Verhältnis hatte oder ob er sich das nur gewünscht oder auch nicht gewünscht hatte. Die Erinnerung an sein vergangenes Leben ist nicht seine eigene, er erhält sie nur durch die Erzählungen anderer. Deshalb beschließt er, im Haus seines Großvaters in Solara auf dem Land, wo er seine Kindheit verbracht hatte, seiner verlorenen Vergangenheit auf die Spur zu kommen. Und wieder ist es das Gedruckte, das ihn, unterstützt von alten Platten und Liedern, auf die Spur seiner Erinnerung bringt.

Im Speicher des großväterlichen Hauses findet er die Lektüre seiner Kindheit. Nicht mehr die Großen der Weltliteratur sind es, die das Herz des Antiquars und Büchernarren zum Beben bringen, sondern die Abenteuer von Topolino alias Micky Maus, von Pietro Gambadilegno alias Peg-leg Pete alias Kater Karlo und von Flash Gordon. Vor diesem trivialen Hintergrund breiten sich dem Gedächtnissucher Vermutungen über den Einfluss dieser Lektüre auf sein politisches Weltbild seiner Jugend aus. War es wirklich das Micky Maus-Heft "Topolino Giornalista", das ihm inmitten der faschistischen Diktatur den Wert der Pressefreiheit vermittelte? Oder ließ er sich doch eher von den volksverhetzenden Karikaturen der Illustrierten "La difesa della Razza" beeinflussen?

Eine zweite Herzattacke führt Yambo erneut an den Rand des Todes und gibt ihm zugleich sein autobiografisches Gedächtnis zurück. Aus dem Nebel steigt nun das politische und soziale Leben seiner Jugend auf. Zwischen unterdrücktem Aufbegehren gegen die Staatsmacht und echter Resistance kommt noch eine weitere versunkene Erinnerung ans Licht. Die Erinnerung an die große Liebe. Lila verließ noch in der Schule das Land und hinterließ in dem schmachtenden Jüngling die Sehnsucht, die am Ende die Erinnerung an sein Leben dominiert.

Das große Finale der Erinnerung gipfelt in einer "Apokalipsis cum figuris", wie sie Adrian Leverkühn in Thomas Manns "Doktor Faustus" nicht dramatischer hätte komponieren können. Nur dass dem armen Yambo wiederum nur die papierenen Figuren seiner Jugend erscheinen. Dale Arden und Doktor Zarkov, Flash Gordon, Mandrake the Magician, Cyrano de Bergerac und die Königin Loana, die Hüterin jener Flamme der Erinnerung, die in ihm lodert - sie alle erscheinen ihm in seiner letzten Stunde. Lila aber, die Erscheinung, nach der er sich sehnt, bleibt im Nebel versunken.

Am Ende siegt also wiederum das Papier über die Leidenschaft. Umberto Eco, der Maestro der Postmoderne, hat sein Schelmenstück mit einem Augenzwinkern beendet. Es schien tatsächlich möglich, die Leidenschaft und das Leben zu erinnern. Am Ende bleibt aber wieder nur der literarische Schein. Und natürlich sind es nicht die ernsthaften und nicht die klassischen Literaten, die ihre Herrschaft beweisen, sondern die komplette Palette der trivialen Comic- und Slapstick-Literatur, verstärkt noch durch deren bildliche Darstellung, die den ganzen "illustrierten Roman" durchzieht.

Man täte dem Buch Unrecht, wenn man die Darstellung der Erinnerung durch die Trivialliteratur isoliert betrachten wollte. Die Politik und das soziale Leben der Zeit, selbst in den eingeschränkten Verhältnissen einer Diktatur, werden durch die Trivialkultur widergespiegelt, karikiert und beeinflusst. So zumindest die postmoderne These des Buches. Dort, wo die hochkulturellen Madeleines eines Marcel Proust nicht mehr weiterwissen, muss eben Topolino herhalten. Dass der Kitsch einer Königin Loana am Ende stärker ist als die Sehnsucht und die Jugendliebe, mag in seinem Sarkasmus enttäuschen. Doch wen überrascht dies noch? Enttäuschende Desillusionierung gehört nun mal zum postmodernen Spiel.

Titelbild

Umberto Eco: Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
Carl Hanser Verlag, München 2004.
480 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-10: 3446205276

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