Die Welt im Sucher

Mit der Leica um die Erde - ein neuer Bildband zeigt Reisebilder von Marion Gräfin Dönhoff aus vier Jahrzehnten

Von Carmen EllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carmen Eller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wollen wir mal sehen, was da drin ist?", fragt die Großtante ihren Neffen und zeigt auf einen abgewetzten Lederkoffer unter dem Sofa. Das verstaubte Gepäckstück beherbergt neben Briefen eine vergilbte Pappschachtel mit fünfzehn Rollen Negative - Fotos einer Reise von Ostpreußen nach Albanien. Die Szene wäre kaum der Rede wert, handelte es sich bei der genannten Dame nicht um Marion Gräfin Dönhoff, die Mitbegründerin der "ZEIT", die im März 2002 verstarb.

Sehen, "was drin ist", kann nun auch der Leser, wenn er einen Blick in den Bildband wirft, den ihr Neffe Friedrich Dönhoff aus dem fotografischen Werk der renommierten Publizistin zusammengestellt hat. "Reisebilder. Fotografien und Texte aus vier Jahrzehnten" heißt das ansprechend gestaltete Buch, das Aufnahmen von und mit Dönhoff versammelt, deren erste Leica ein Abiturgeschenk war. Die Kamera nahm sie fortan auf alle Reisen mit, 1963 aber bannte sie die letzte Szene auf Zelluloid. "Wenn man es als Journalist richtig machen will, muß man sich entscheiden: schreiben oder fotografieren", lautete ihr Motto.

Der Leser startet die literarische Reise in der ostpreußischen Heimat Dönhoffs. In einem Text zu Beginn des Buches schreibt sie: "Der Rhythmus des Jahres, der immer der gleiche blieb, bestimmte unser Leben, so daß die Bilder der Jahreszeiten sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hatten." Dönhoff versteht es, mit Worten zu malen und den Leser mit allen Sinnen in das Umfeld ihrer Kindheit zu versetzen: "Die Ähren stehen gelb und stramm [...], zwischen den Ställen hängt der Geruch der schwitzenden Pferde", und man vernimmt "das laute Knallen der Peitschen". Viele Fotos veranschaulichen dieses enge Band zwischen Mensch und Natur: ein Ziehbrunnen im Schnee als ländliches Stillleben, Mutter Ria im Kostüm vor einer mächtigen Tanne und Bruder Heinrich im Ährenfeld. Im zweiten Kapitel sitzt der Leser bereits mit Dönhoff und ihrer Schwester Yvonne im Cabrio, "einem weißen Sportwagen mit roten Sitzen", und reist durch Europa: von ihrer Heimat Friedrichstein nach Albanien und zurück.

Die Lektüre des Buches ermöglicht eine vielschichtige Lesereise, die in Ostpreußen beginnt, über den Balkan nach Russland, Afrika und Jemen führt und wieder am Ausgangspunkt endet. Wunderbar ergänzt werden die Fotografien mit Texten von und über die Weltenbummlerin. Der Leser findet einen Brief an die Geschwister, Interviews und Reportagen. Besonders erwähnenswert ist der Beitrag "Der Effendi wünscht zu beten", eine humorvoll beschriebene Taxifahrt auf der Wüstenstraße von Amman nach Bagdad. Im Kapitel "Die reisende Journalistin" begleitet der Leser Marion Gräfin Dönhoff auf ihren internationalen Dienstreisen, bei denen sie in den fünfziger Jahren unter anderem in der asiatischen und arabischen Welt unterwegs war. Bedauerlich ist allerdings, dass oftmals Angaben zu Ort und Zeit der Aufnahmen fehlen.

Dönhoff fotografierte mit Vorliebe Wege aller Art sowie Menschen, die auf ihnen unterwegs sind, beispielsweise einen jungen Hirten, der seine Schafe nach Hause treibt oder einen Mann im Pferdegespann. Es sind ruhige Szenen über das einfache Leben. Dönhoffs Fotos erwecken selten den Eindruck, dicht am Geschehen zu sein. Vielmehr zeigen sie den Blick einer Beobachterin, die sich für das Gesehene interessiert, aber zugleich Distanz wahrt. Sie spielt mit Licht und Schatten, Schärfe und Unschärfe und versteht es, auch scheinbar idyllischen Szenen ärmlichen Lebens in Afrika oder Albanien eine politische Dimension zu geben.

An fremden Orten entdeckt Dönhoff immer neu den Alltag der Menschen. In Worten und Bildern über Afrika wiederum vermittelt sie eine Atmosphäre, "in der man selbst vollkommen zeitlos" wird: "Der Rhythmus ist immer der gleiche, und das Tagesende ist immer Sammlung, Ruhe, Frieden. Pilikwe ist ein Paradies." Das verlorene Paradies ihrer Jugend versucht Dönhoff 1963 wiederzufinden, als sie zum ersten Mal nach dem Krieg in ihre ostpreußische Heimat zurückkehrt. Die literarische Reise im Bildband endet dort, wo sie angefangen hat. Dennoch ist nichts, wie es war, denn Ostpreußen gehört inzwischen zu Polen. Die Suche nach der Vergangenheit führt in eine neue Welt.

Zum Glück für den Leser hat Friedrich Dönhoff die Pappschachtel seiner Großtante geöffnet und den Blick gewährt auf Bilder, Dokumente und das bewegte Leben einer Reisenden. "Ist die Welt begreiflicher geworden, seitdem wir so viel mehr Details von ihr wissen? Lernt man die Welt besser verstehen durch Reisen oder eigentlich nicht?", fragt Dönhoff ihren Neffen in einem Interview. Auf den Leser wartet nicht unbedingt eine Antwort, sicherlich aber eine lohnende Lektüre.

Titelbild

Marion Gräfin Dönhoff: Reisebilder. Fotografien und Texte aus vier Jahrzehnten.
Herausgegeben von Friedrich Dönhoff.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2004.
272 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3455094597

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