Moralische Beobachtungen eines Gelegenheitsdenkers

Paul Rées "Ursprung der moralischen Empfindungen" wird nach fast 130 Jahren neu aufgelegt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Lou Andreas-Salomé - die wohl bekannteste Dreiecksbeziehung der Philosophiegeschichte. Auch wenn die beiden Herren leer ausgegangen sind. Zwar wählte Salomé keinen von beiden, und wen sie mehr schätzte, mag offen bleiben. Jedenfalls aber sah sie in Rée den "schärferen Kopf". Inwiefern das berechtigt war, lässt sich nach der von Hans-Joachim Pieper, Hans-Walter Ruckenbauer und Michael Rumpf herausgegebenen Neuauflage von Rées Untersuchung des "Ursprung[s] der moralischen Empfindung" von 1877 zumindest für den Bereich der Ethik nun etwas einfacher überprüfen. Zudem liegt mit der Schrift ein Text vor, dessen Einfluss auf Nietzsches "Genealogie der Moral" (1887) kaum überschätzt werden kann.

In einem Rées Text vorangestellten Beitrag liefern die Herausgeber einen Abriss von Rées Biografie, legen die Grundzüge des "Réealismus" ihres Autors dar und bescheinigen ihm trotz der "empirisch-evolutionstheoretischen Grundlagen seines Denkens", dass er "der Gefahr eines plumpen Reduktionismus" entgehe.

Rées schmale Schrift umfasst in der vorliegenden Ausgabe gerade mal 120 Seiten. Im Anschluss an die "Entwicklungstheorie" von Darwin legt ihr Autor "weniger ein systematisches Werk als eine Sammelung von einzelnen Beobachtungen" vor. Denn jeder "wirkliche Denker", so Rée, sei ein "Gelegenheitsdenker". In dem Werk, das gar nicht so unsystematisch ist, wie sein Autor vorgibt, versucht er zu zeigen, dass die "moralischen Phänomene ebenso gut auf natürliche Ursachen zurückgeführt werden [können] wie die physischen". Jeder Mensch, so erklärt Rée, besitze zwei Triebe: den "egoistischen" und den "unegoistischen". Ersterer sei von vorneherein der "ursprüngliche und stärkere", der zweite der "spätere und schwächere". Schließlich sei er "durch das Verlangen nach Eigentum und das Bestreben mehr zu haben als andere" sogar "vollends beiseite gedrängt" worden. Und zwar, wie Rée meint, auch "in Folge der Entwicklung ihrer Vernunft", welche die Menschen "auszeichnungssüchtig und neidisch" mache. Gelegentlich sei der unegoistische Trieb jedoch "ebenso stark, ja stärker" als der egoistische.

Erklärt Rée das unegoistische Handeln im Anschluss an Darwin damit, dass der Mensch vom Affen den Trieb übernahm, für andere seiner Art zu sorgen, so erkennt er in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine kulturelle Leistung: Das Unegoistische sei zwar als ein "Erbteil unserer tierischen Vorfahren" angeboren. Doch die "Vorstellung seiner Löblichkeit" habe sich erst "auf einer bestimmten Kulturstufe" entwickelt. "[A]n und für sich betrachtet" seien solche Handlungen allerdings "weder tadelnswert noch lobenswert".

Ähnlich wie Kant vertritt Rée eine Gesinnungsethik, die "nicht auf den Erfolg, sondern auf die Absicht des Handelnden" sieht. Ein Arzt etwa, der um des Geldes willen heilt, sei darum noch nicht gut zu nennen.

Im Zuge seiner Darlegungen greift Rée auch in so mache aktuelle Debatte ein und diskutiert etwa die - allerdings unter PhilosophInnen schon sehr alte - Frage der Willensfreiheit, der er 1885 gar eine eigene Schrift mit dem Titel "Die Illusion der Willensfreiheit" widmen sollte. Zwar verneint Rée - wenig überzeugend - die Freiheit des Willens, doch will er darum nicht gleich das gesamte Strafrecht über Bord werfen, wie dies einige Hirnforscher des 21. Jahrhunderts fordern. Teilt er mit ihnen auch die Auffassung, "daß kein Verbrecher um seiner Verbrechen selbst willen bestraft werden darf", so muss Rée zufolge doch aus Abschreckungsgründen gestraft werden. Die Strafe geschehe ebenso wie die Tat, auf die sie folgt, "aus Bestimmungsgründen und insofern mit Notwendigkeit". Und zwar sei das Verbrechen der Bestimmungsgrund zu strafen. Kurz: Der "ursprüngliche Zweck" der Strafe sei "von schlechten Handlungen abzuschrecken".

Ob die Todesstrafe, als "Ausschließung aus der Gesellschaft", anzuwenden sei - auch dies noch immer ein aktuelles Thema -, werde durch "die Statistik" entschieden. Trage "die lebenslängliche Einsperrung der Mörder" ebenso viel zur Abschreckung bei wie die Todesstrafe, so sei diese nicht gerechtfertigt.

Ein drittes seit einigen Jahrzehnten wieder besonders virulentes Thema behandelt Rée in aller Ausführlichkeit: die Geschlechterdifferenz. Neben der Bedeutung der Ehe interessieren ihn insbesondere die geschlechtsspezifischen Emotionen, namentlich die Eitelkeit. Richtet er sein Augenmerk allerdings nicht ausdrücklich auf die Geschlechterdifferenz, so gerinnt ihm der Mensch wiederholt zum Mann. "Der Mensch", heißt es dann etwa, "will möglichst schöne Weiber begatten". Dieses eine Beispiel mag hier für viele stehen. Wird der Mann in Rées Schrift zum Menschen schlechthin erhoben, so wird die Frau zum Objekt (seiner Begierde) degradiert. Ein Objekt, das Rée mit Lebensmitteln und Reichtum auf eine Stufe stellt. "Das Weib", heißt es einmal, sei "erstrebter Gegenstand", dessen "Besitz" ersehnt werde. Derlei kennt man allerdings aus philosophischen Schriften nicht nur des 19. Jahrhunderts bis zum Überdruss. Mit einer Überraschung wartet Rée hingegen auf, wenn er neben der Liebenswürdigkeit, der Wirtschaftlichkeit "und in unserer Zeit ganz besonders" dem Geld auch die Klugheit zu den Mitteln rechnet, mit denen Frauen ihrer Schönheit "sekundieren", um Männer für sich zu gewinnen. Gemeinhin wird von Rées Zunft- und Zeitgenossen die Klugheit der Frauen ja eher als für deren Attraktivität abträglich betrachtet.

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Paul Rée: Der Ursprung der moralischen Empfindungen.
Herausgegeben, erläutert und mit einer Einleitung versehen von Hans-Joachim Pieper, Hans-Walter Ruckenbauer und Michael Rumpf.
DenkMal Verlag, Alfter 2004.
143 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3935404107

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