Schulz und Sühne
Edgar Hilsenraths Roman „Der Nazi & der Friseur“ ist endlich wieder neu aufgelegt worden
Von Jan Süselbeck
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDass Edgar Hilsenrath am 27. November in der Akademie der Künste für sein Werk ausgezeichnet wurde, war keine große Überraschung. Er erhielt den Lion-Feuchtwanger-Preis 2004. Wie alle anderen offiziellen Anerkennungen, die ihm seit 1989 zuteil wurden, hat Hilsenrath auch diese mehr als verdient. Erstaunlich wäre es vielmehr, wenn man hierzulande endlich einmal anfangen würde, diesen Autor auch zu lesen.
Dazu gibt es einen aktuellen Anlass: Hilsenraths berühmter Roman„Der Nazi & der Friseur“, 1971 im New Yorker Verlag Doubleday & Company erstmals erschienen und bald darauf als internationaler Millionenbestseller gefeiert, ist jetzt in Deutschland endlich neu aufgelegt worden. Und zwar als Prunkstück der Gesammelten Werke, die Hilsenraths alter Verleger Helmut Braun im kleinen Kölner Dittrich Verlag seit letztem Jahr herausgibt. „Der Nazi & der Friseur“ ist bereits die dritte Erscheinung: Band 2 der bis 2008 auf 11 Bände veranschlagten Werkausgabe.
Braun fasste sich 1977 ein Herz und veröffentlichte Hilsenraths schrillen Roman erstmals in seinem Literarischen Verlag in Köln. Obschon bereits Ende der 60er Jahre in München auf Deutsch geschrieben und bald darauf weltweit in mehrfacher Übersetzung ein großer Erfolg, hatte sich bis dahin kein hiesiger Verleger dazu durchringen können, Hilsenraths scharfsinnige Verspottung des philosemitischen Konstrukts einer „deutsch-jüdischen Symbiose“ herauszugeben.
„Noch heute muss ich manchmal schlucken, wenn ich das Buch wiederlese“, sagte Hilsenraths aktueller Verleger Volker Dittrich gegenüber der „Jungle World“, „und hier und da frage ich mich schon, ob man so respektlos über Auschwitz überhaupt schreiben darf“. Hilsenrath nahm es sich jedenfalls heraus, und deswegen glaubte niemand vor Braun und Dittrich, den Roman dem deutschen Publikum zumuten zu können. Die Möglichkeit eines satirischen Umgangs mit der Judenvernichtung und der Gründung des Staates Israel war nämlich hierzulande lange tabu. Sie durfte nicht sein, stellte sie doch das ungeschriebene Gesetz eines verlogenen Betroffenheitsgestus gegenüber den überlebenden jüdischen NS-Opfern in Frage.
In „Der Nazi & der Friseur“erzählt Hilsenrath zudem die stereotype Geschichte neu, die Gustav Freytag in seinem Besteller „Soll und Haben“ (1855) der Literaturgeschichte überantwortete. Sind es bei Freytag der ehrliche Deutsche Anton Wohlfart und sein verschlagener jüdischer Kindheitsfreund Veitel Itzig, die als Paradefiguren des bürgerlichen Realismus anschaulich machen sollen, warum tüchtige deutsche Arbeiter immer die Guten sind und sich ihre jüdischen Gegenspieler früher oder später als habgierige Bösewichte entpuppen, so schreibt Hilsenrath die Geschichte derart, wie sie nach Auschwitz erzählt werden muss.
Hier begegnen uns der betrügerische und als leibhaftige antisemitische Karikatur eines Juden umherlaufende deutsche SS-Massenmörder Max Schulz und sein rechtschaffener jüdischer Jugendfreund, der blonde, blauäugige und klassisch gebildete Friseurssohn Itzig Finkelstein. Mittels ihrer Biografie zieht Hilsenrath die Geschichte des deutschen Antisemitismus, der nationalsozialistischen Judenverfolgung, der deutschen Nachkriegszeit und des Überlebenskampfs des jungen Staates Israel nach seiner Gründung am 14. Mai 1948 in einer Art und Weise durch den Kakao, dass dem deutschen Leser Hören und Sehen vergeht.
Da gibt es viel zu lachen. Hilsenraths absurde Szenen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit uralten Klischees und Vorurteilen offensiv umgehen. Sie treiben die antisemitischen Stereotypen aus Freytags urdeutschem Roman auf die Spitze, um sie endgültig ad absurdum zu führen. Gleichzeitig gelingt es Hilsenrath jedoch auch immer wieder, die konkrete Geschichte der Judenvernichtung in lakonischen Erzählmomenten aufscheinen zu lassen, die den mutigen Versuch einer direkten Beschreibung des inkommensurablen Grauens erkennen lassen.
Dabei ist es hier niemand Geringeres als ein NS-Massenmörder, der uns seine Lebensgeschichte erzählt. Max Schulz, Sohn eines Nazi-Kleinbürgers und einer hitlergläubigen Hure, begeistert sich schon als Kind für das Judentum und seine Gebräuche. Zuhause den Schlägen und Vergewaltigungen seines Vaters ausgesetzt, findet das Kind bei der Familie Finkelstein Liebe und Respekt. In ihrem jüdischen Friseursalon mit dem bezeichnenden Namen „Der Herr von Welt“ geht Max zunächst auch in die Lehre, erschießt jedoch während seines späteren SS-Einsatzes eigenhändig die gesamte Familie – auch seinen besten Jugendfreund Itzig.
Nach dem Krieg auf der Flucht vor der juristischen Verfolgung seiner unsagbaren Verbrechen, nimmt Schulz kurzerhand Itzigs Identität an und wandert „für ihn“ nach Palästina aus. Mehr noch: Er schließt sich sogar einer jüdischen Terrorgruppe an, um die britische Kolonialmacht aus Palästina zu vertreiben. Dass Schulz also mit seinem ungebrochenen SS-Idealismus problemlos Karriere in der werdenden israelischen Gesellschaft machen kann und von der jüdischen Terroreinheit „Schwarz“ ausgerechnet in dem Moment angeworben wird, als er im Friseursalon Schmulevitch eine flammende Propagandarede im ekstatischen Stil Adolf Hitlers gehalten hat, gehört zu den Späßen des Buches, die man tatsächlich erst einmal schlucken muss.
So empört sich Schluz über einen jüdischen Friseurkollegen: „Reißt Witze über den Zionismus – wir nannten sowas ‚Zersetzung‘ – beleidigt unsere Führer – wir nannten sowas ‚Führerbeleidigung‘ – redet andauernd von der verlorenen Sache – wir nannten sowas ‚Verbreitung von Feindpropaganda und Defätismus‘“.
Nach der Staatsgründung Israels schließlich prescht Finkelstein alias Schulz im Krieg gegen die arabischen Angreifermächte mit einem Jeep versehentlich gleich bis zum ägyptischen Suezkanal vor und wird endgültig zur geheimen Heldenfigur der neuen israelischen Militärmacht. Hier spielt der Roman mit den unweigerlichen Identifikationsneigungen des Rezipienten, der sich immer wieder verblüfft dabei ertappt, wie er einem feigen Mordvollstrecker Hitlers fest die Daumen drückt: Schulz kämpft ausgerechnet mit dem, was er als Nazimörder gelernt hat, bedingungslos für die Sache Israels.
Auch gibt es wohl kaum eine bizarrere Geschichte in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, als die Passage, in der SS-Mann Schulz auf der Flucht vor jüdischen Partisanen in einem polnischen Wald in die Kate der unheimlichen Eremitin Veronja gerät. Ihr Obdach ist im tiefsten Winter seine einzige Überlebenschance, und seine ‚Retterin‘ nutzt die Situation genüßlich aus. Im Gegensatz zu fast allen anderen Figuren des Romans ahnt sie, dass Schulz im nahen KZ Laubwalde Herr über Leben und Tod gewesen sein muss und freut sich nun darauf, endlich einmal Macht über einen solchen „Gott“ zu haben.
„Veronja mochte uralt sein, aber sie hatte Hexenkräfte. Sie prügelte mit Wucht und Präszision, stieß ihr meckerndes Lachen aus, wenn ich aufheulte, schien nie zu ermüden, schlurfte auf ihren alten Beinen schneller, als ich rennen konnte, folgte mir unter den Küchentisch, unter die Bank, unter den Herd …“. Schließlich vergewaltigt Veronja ihren Gast mittels erektionsfördernder Kräutertees in nächtelangen Beischlafexzessen und reitet ihn buchstäblich in einen Herzinfarkt hinein.
Fick den SS-Mann: Das ist ein pornografisches Kasperletheater, wie man es in den larmoyanten deutschen Kriegsheimkehrer-Texten Wolfgang Borcherts, Heinrich Bölls und anderer nirgends finden kann. In ihrer kompromisslosen Radikalität ist Hilsenraths Satire zweifelsohne von weltliterarischem Rang. Die unsäglichen Klischees, die Günter Grass‘ unvermeidlicher „Blechtrommel“ den gleichen Ruhm einbrachten, werden hier endlich aus sich selbst heraus entlarvt.
So kann wahrscheinlich nur jemand schreiben, der die NS-Vernichtungsmaschinerie selbst überlebte. Hilsenrath überstand das Ghetto von Moghilev-Podolsk und wanderte über Palästina in die USA aus. 1975 kehrte er nach Deutschland zurück und lebt seither in West-Berlin, weil er, wie er betont, „sich in die deutsche Sprache verliebt“ hat.
Eine absurde Geschichte auch dies. Hilsenraths Autor-Biografie selbst wirkt bereits wie ein schlagender Beleg für das Diktum Theodor W. Adornos, wonach heute nur noch die Übertreibung im Stande sei, der Realität in irgendeiner Weise gerecht zu werden.
Anmerkung der Redaktion: Der Artikel erschien zuerst am 24. November 2004 in der „Jungle World“. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.
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