Die Ko-Konstruktion von Gesellschaft, Geschlecht und Technik

Ein Sammelband zum Zusammenhang von Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik in den Gender Studies

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Judith Butler, der innovativsten Gender-Theoretikerin der 90er Jahre, wird von verschiedenen Feministinnen noch immer vorgeworfen, ihre dekonstruktiven Arbeiten betrieben Glasperlenspiele im privilegierten Elfenbeinturm der Wissenschaft, die nicht nur dem politischen Tagesgeschäft feministischer Aktivistinnen qua Negation des politischen (Kollektiv-)Subjekts Frau den Boden entzögen, sondern entpolitisierend wirkten, indem sie die Makroebene der zu transformierenden patriarchalischen Gesellschaft aus dem Blick verlören. So wurde noch jüngst auf einer Tagung zur feministischen Arbeitsforschung in Marburg die vermeintliche Subjektivierung und Individualisierung feministischer Anliegen in der amerikanischen Genderforschung beklagt.

Während solchen KritikerInnen das Verhältnis von Gender Studies und feministischer Praxis als prekär gilt, moniert Stefan Hirschauer die allenfalls lose Verbindung zwischen Gender Studies und Science Studies und schlägt vor, sie so zu verknüpfen, dass die Genese von Wissen und Geschlechtern "in einem Zug" beobachtet und in einer "umfassenden Wissenssoziologie der Geschlechterdifferenz" integriert werden kann, wie der Gender-Forscher auf der Konstanzer Tagung "Gender Studies zwischen Theorie und Praxis: Standortbestimmungen" im April 2003 darlegte. Gemeinsam mit weiteren Vorträgen haben Therese Frey Steffen, Caroline Brandt und Anke Väth Hirschauers Ausführungen in dem Sammelband "Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik" publiziert. In seinem Beitrag "Social Studies of Sexual Difference: Geschlechtsdifferenzierung in wissenschaftlichem Wissen" klagt Hirschauer nicht nur die Verbindung von Gender Studies und Science Studies ein, sondern beleuchtet darüber hinaus, wie Gender Studies und Sex Studies im stets und überall zwei Geschlechter unterscheidenden kulturellen Kontext "eingenistet" sind. Während der Gender-Diskurs das "Alltagswissen" um die Geschlechter kritisiere und "pathetisch" Alternativen zum 'Bestehenden' offeriere, trete die "Technisierung der Geschlechterdifferenz" als "Optionengewinn" auf, konstatiert Hirschauer, und je stärker der Körper den "Deutungsansprüchen" seiner "individuellen 'Nutzer'" entzogen werde, umso "disponibel[er]" werde er für deren medizinisch realisierbare "Gestaltungsansprüche". Je "bedeutungsloser" das Geschlecht also werde, desto "wählbarer" werde die Geschlechtszugehörigkeit. Denn die von den Gender Studies schon immer postulierte Kontingenz von Geschlecht werde inzwischen mittels medizinischer Techniken "längst alltagsweltlich praktiziert". Schließlich könnte die Kontingenz der kulturellen Deutbarkeit von Körpern nur noch durch deren "technische Veränderung" dargestellt werden. Erforschen lasse sich der "Zusammenhang von Technisierung und praktiziertem Kulturalismus" allerdings nur aus der Perspektive der Gender Studies.

Während Hirschauer das Verhältnis von diskursiver und technisch-medizinischer Konstruktion von Geschlecht erörtert, denkt Jutta Weber über Queer und Transgender als "gesellschaftliche[n] Subjektivierungsweisen" an der "Schnittstelle von Performanz und Sozialem im Kontext von Neoliberalismus und neuen Technologien" nach, um die "Ko-Konstruktion von Gesellschaft, Geschlecht und Technik" zu beleuchten. Manfred Weinberg verortet in seinem differenzierten Beitrag Geschlecht zwischen Sex und Gender und begründet, warum seiner Auffassung nach weder Sex Gender zugrunde liegt, noch Gender unabhängig von Sex ist. Gregor Straube wiederum vergleicht die Kategorien Handlungsfähigkeit und Materialität in den Ansätzen von Judith Butler und Donna Haraway, um der Frage nachzugehen, "wo und wie sich die Theorien der beiden Wissenschaftlerinnen miteinander verknüpfen lassen". Andreas Kraß liest die Literaturgeschichte queer und Ralph J. Poole wendet sich dem Potenzial sowie den Limitationen zu, die queerness für die Gender Studies bedeuten, wobei er queerness nicht als eine "Theorie von und über Menschen" versteht, sondern Queer Theory als eine Theorie begreift, die sich dem "dekonstruktivistischen Ziel" verschrieben hat, "Theorie queer zu machen". Regina Becker-Schmidt thematisiert den Zusammenhang von Erkenntniskritik und Sozialkritik in der Geschlechterforschung. Neben Epistemologien von Konstruktionsprinzipien sowohl sozialer als auch naturwissenschaftlicher Phänomene seien Ansätze notwendig, die erklären, wie soziale Realität "in ihrer historischen Bestimmtheit" entsteht. Kurz: Das Erkenntnisinteresse müsse sowohl Konstruktions- wie auch Konstitutionsprozessen gelten. Werde bei Konstruktionen nach dem Wie und dem Wozu von "Bedeutungsgenerierungen" gefragt, so stehe bei Fragen der Konstitution die sozialhistorische Bedingtheit sozialer Komplexe zur Debatte. Becker-Schmitt postuliert also in gewisser Weise das Primat der Konstitution vor der Konstruktion. Letzterer aber wohnt - könnte man hinzufügen - die sozialkritische Potenz inne.

Die Biologin und Philosophin Kerstin Palm konstatiert, dass in dem "Disziplinenkonsortium" der "Gender-Studiengänge" keine Naturwissenschaften vertreten sind, "auch nicht die Biologie", und geht der Frage nach, warum dem so ist. Die Gender Studies, so meint sie, säßen einem "tiefgreifenden epistemologischen Missverständnis" auf, wenn sie die "Theoriedynamik" der sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer für "allumfassend" und auf die Naturwissenschaften, etwa die Biologie, "übertragbar" halten. Denn dort habe keine "konstruktivistische Wende" stattgefunden. Dies sei auch gar nicht möglich, bewege sich die Biologie doch in einem "völlig anderen methodologischen Horizont" als die Sozial- und Kulturwissenschaften, in dem weder die historischen noch die epistemologischen Dimensionen der Forschungsgegenstände behandelt werden. In der Biologie gehe es vielmehr ausschließlich um die "empirisch-analytische Aufschlüsselung der Struktur und Funktionsweise von biologischen Körpern auf der Grundlage eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses". Denn der Körper sei in dieser Disziplin notwendigerweise nichts weiter als eine "kausalanalytisch zu beschreibende nichtkontingente und nicht zu historisierende Realität, die naturgesetzlich geordnet ist". Hierin macht Palm den unaufhebbaren Grund dafür aus, dass in der Biologie nach wie vor nicht mit dem Begriff Gender gearbeitet wird, sondern im Rahmen einer "Sex-Forschung im klassischen Sinne" die "überzeitliche[n] Strukturen und Prozesse des Lebendigen [...] unter Rückgriff auf physikalische und chemische Grundlagen" untersucht werden. Die Kategorie Gender, fasst Palm zusammen, sei also ein "fachspezifisches, nämlich kultur- und sozialwissenschaftliches Konzept", das "in den Naturwissenschaften nicht aufgegriffen werden kann". (Herv. R.L.) Da nun also die Kategorie Gender aufgrund der "tiefgreifenden epistemologischen Differenz" zwischen den Naturwissenschaften hier und den Geistes- bzw. Kultur- und Sozialwissenschaften dort von Ersteren nicht aufgegriffen werden kann, so darf man wohl schließen, handelt es sich bei Letzteren um die umfassenderen und erklärungsmächtigeren Disziplinen, denn sie kennen beide Kategorien, also nicht nur die des 'natürlichen' Sex, sondern eben auch Gender.

Palm aber geht es um etwas anderes. Angesichts des von ihr - mit wie viel Recht auch immer - konstatierten Umstandes, dass die Biologie die Kategorie Gender aus dieser Disziplin notwendig innewohnenden Gründen nicht rezipieren kann, fragt sie, wie kritische Geschlechterforschung "innerhalb der Biologie" betrieben werden kann. Eine Antwort findet sie bei den Feministinnen Linda Fedigan und Anne Fausto-Sterling, die den "subversive[n] Blick aus dem Inneren der Biologie" für sich in Anspruch nehmen dürfen. Von Gender-ForscherInnen erwartet Palm, dass sie die "deutlich essentialistische" gleichwohl aber "subversive" Forschung von Fedigan, Fausto-Sterling und anderen feministischen BiologInnen, deren Modelle biologischen Determinismus "verunmöglich[en]", genauer zur Kenntnis nehmen. Womit sie heute eine der wenigen feministischen WissenschaftlerInnen sein dürfte, die Essenzialismus nicht grundsätzlich ablehnen. Vielmehr sind es Palm zufolge gerade "drei essentialistische Annahmen", die "aus biologischen Gründen" eine "eindeutige Festlegung auf verbindlich zu bezeichnende Merkmale von Geschlechtskörpern" verhindern: "heterogen gespeiste Multikausalität, Komplexität und Plastizität des körperlichen Entwicklungsfortgangs". Abschließend appelliert Palm an die GenderforscherInnen, das Verhältnis zwischen der "vorwiegend erkenntnistheoretischen und metakritischen Perspektive der Gender-Forschung auf den Körper" und der "auf den pragmatischen Zugriff abhebenden Sex-Forschung mit ihren positiven Körperbestimmungen" noch einmal zu überdenken.

Zwar spricht Palm mit ihren Überlegungen zum Verhältnis zwischen der kultur- und sozialwissenschaftlichen Genderforschung einerseits und der naturwissenschaftlichen Sexforschung andererseits schon fundamentale Probleme an. Den Beitrag jedoch, der sich mit den grundlegendsten Fragen befasst, legt die Philosophin und Politologin Kathrin Hönig mit ihrer "[p]ropädeutische[n] Begriffserklärung" vor, mit der sie der Frage nachgeht, ob Geschlechterforschung "mehr oder (noch) etwas anderes als die Forschung über Geschlechterverhältnisse" sei, und wie der Begriff Geschlechterforschung bei positiver Beantwortung dieser Frage zu bestimmen wäre. Hierzu legt sie zunächst einmal dar, wieso sie den Ausdruck Geschlechterforschung der - wie sie polemisch formuliert - "neudeutschen" Bezeichnung Gender Studies vorzieht. Mit Letzterer werde eine "nicht abgestützte theoretische Vorentscheidung" getroffen, welche die Geschlechterforschung auf die Erforschung des sozialen Geschlechts beschränke, wobei das biologische Geschlecht entweder subsumiert, reduziert und für gänzlich durch Gender erklärbar gehalten, wenn nicht gar einfach ausgeblendet werde. Nun machen sich die von Gender-TheoretikerInnen wie Judith Butler vertretenen Konzepte des Sex/Gender-Verhältnisses allerdings keineswegs einer Präjudikation schuldig. Hönig beklagt des Weiteren, dass keine "befriedigende, geschweige denn eine allgemein anerkannte Erklärung" der Beziehung zwischen Sex und Gender vorliege, und übersieht dabei, dass - ebenso wie etwa in der Philosophie oder der Wissenschaftstheorie - in den Gender Studies oder der Geschlechterforschung kaum eine Erklärung irgendeines Phänomens unwidersprochen bleibt, also "allgemein anerkannt" ist.

Ungeachtet dessen fordert sie, solange diese hohe und kaum erfüllbare Forderung nach allgemeiner Anerkennung nicht eingelöst ist, den "doppeldeutige[n] deutschen Begriff 'Geschlecht', der beide Aspekte, den sozialen und den biologischen, in sich vereint", heranzuziehen. Nun kann man allerdings durchaus bestreiten, dass der Begriff Geschlecht gegenüber Gender der umfassendere ist. Verweist doch gerade Letzterer implizit und notwendigerweise auf Sex, wie auch immer das Verhältnis zwischen beiden von den Gender-ForscherInnen und -TheoretikerInnen jeweils konzeptionalisiert werden mag. Hönigs Behauptung, der Begriff Geschlecht denke die Unterscheidung zwischen Sex und Gender stets mit, scheint hingegen dem Prinzip des wishfull thinking zu entspringen. Geschlechterforschung kann nicht nur in der Humanbiologie oder der Humanmmedizin prinzipiell betrieben werden, ohne dass die Forschenden jemals das geringste von so etwas wie dem sozialen Geschlecht gehört haben.

Doch nicht alles, was Geschlecht(lichkeit) erforscht, soll sich Hönig zufolge Geschlechterforschung nennen dürfen. Vielmehr verlangt sie, eine normative "Bestimmung des Begriffs Geschlechterforschung" einzuführen, die eine "ausschließlich deskriptive Auslegung" dessen, was Geschlechterforschung sei, nicht zulässt. Ihr Vorschlag für eine solche Definition des Begriffs lautet: "Geschlechterforschung ist Forschung über wie und wo auch immer identifizierte Geschlechterverhältnisse, die sich durch eine feministische Methode auszeichnen". Wo aber wäre dann etwa Doris Bischof-Köhlers "Psychologie der Geschlechtsunterschiede" zu verorten? (Vgl. literaturkritik.de 12/2002) Geschlechterforschung wäre es nach dieser Definition jedenfalls nicht. Gleiches gilt für sämtliche antiemanzipatorische Werke, die sich mit dem Verhältnis der Geschlechter befassen.

Doch Hönig hat ungeachtet der hier vorgebrachten Kritik auch Bedenkenswertes zu sagen, dass sich nämlich Geschlechterforschung zu einer Meta-Theorie entwickeln solle, um den Bereich der Naturwissenschaften mit erfassen zu können. Eine Methodologie sei zu erarbeiten, "welche die Kategorie Geschlecht als relevante, d. h. zu berücksichtigende Kategorie der Methodenreflexion mit einbezöge und von daher normative Vorgaben etablierte, welche die gegenwärtige Wissenschaft bzw. Wissenschaftspraxis nicht unberührt lassen könnten".

Titelbild

Therese Frey Steffen / Caroline Rosenthal / Anke Väth (Hg.): Gender Studies. Wissenschaftstheorien und Gesellschaftskritik.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2004.
266 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826027396
ISBN-13: 9783826027390

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