Psyche in der Unterwelt

Paola Traverso analysiert Freuds Antikenrezeption

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Psyche ist ein griechisches Wort..." ist ein in mehrfacher Hinsicht treffender Titel für ein Buch, das sich mit der Antikenrezeption Sigmund Freuds beschäftigt. Erstens handelt es sich um ein Freud-Zitat, welches sinnfällig die Psychoanalyse mit ihrer Rezeption antiker Quellen verbindet. Zweitens lenkt das Zitat die Aufmerksamkeit auf die Sprache, deren Rolle in der antiken Literatur und der Psychoanalyse der eigentliche Gegenstand der Literaturwissenschaftlerin Paola Traverso ist. Und drittens stammt es aus der 1890 verfassten Schrift "Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)", also aus dem Frühwerk, dem das Interesse der Autorin gilt.

Das Buch hat fünf Kapitel. Im ersten Kapitel gibt Traverso einen Überblick über die Forschungslage und die verschiedenen Interpretationen der Freud'schen Antikenrezeption, wobei sie mit Recht darauf hinweist, dass diesbezüglich die Entstehungszeit der Psychoanalyse noch unterbelichtet ist. Im zweiten Kapitel beleuchtet sie Freuds wissenschaftlichen Werdegang und seine frühen Arbeiten, wobei sie der Zusammenarbeit mit dem Wiener Arzt Josef Breuer an den "Studien über Hysterie" von 1895 besondere Aufmerksamkeit widmet. Im dritten und vierten Kapitel geht es um den "Urtext" der Psychoanalyse, die "Traumdeutung" von 1900. Ein exkursorisches fünftes Kapitel beschäftigt sich mit der Rolle lateinischer Zitate, Metaphern und Redewendungen in Freuds Texten.

Wenn Paola Traverso den Einfluss klassischer antiker Sprache und Literatur auf Freud analysiert, dann zielt sie nicht einfach auf die Diskussion einer Rezeption, sondern auf das Selbstverständnis der frühen Psychoanalyse. Sie geht davon aus, dass die Antikenrezeption Freuds einen zentralen Beitrag zur Konzeption der Psychoanalyse als Wissenschaft leistete. Da liegt es nahe, die Vor- und Frühgeschichte der Psychoanalyse zu betrachten und ihre Entstehung und Herkunft näher unter die Lupe zu nehmen.

Traverso konzentriert sich auf Freuds wissenschaftlichen Werdegang bis 1900 und die "Traumdeutung". In den Mittelpunkt stellt sie die Jahre von 1885 bis 1900; Ausflüge in frühere und spätere Jahre ergänzen die Darstellung. Dabei macht sie eine vielschichtige Verwendung antiker Sprache und Literatur aus: Freud benutzte Zitate griechischer und lateinischer Klassiker zum einen rhetorisch, womit er, bildungsbürgerlichen Traditionen folgend, seine humanistische Bildung ausspielte und die zeitgenössische Hochschätzung der Antike reflektierte. Er verfolgte aber auch eine legitimatorische Strategie, mit der er seine Schriften über psychologische Theorien und ab 1900 über die Psychoanalyse in eingeführte und "altehrwürdige" literarische Traditionen einband.

Dies ist mehr oder weniger bekannt. Das Hauptargument des Buches geht aber weiter. Freud habe in antiker Sprache und Literatur Modelle und Vorbilder gefunden, die die Entwicklung seiner Theorien epistemologisch beeinflusst haben. Dabei bezog er sich sowohl auf die Sprache als auch auf bestimmte narrative Elemente antiker Epen. Dieses Argument ist interessant, denn die Forschung hat sich bislang vor allem auf Freuds Rezeption der Inhalte antiker Mythologie konzentriert - stellvertretend sei an die zahlreichen Untersuchungen zum Ödipuskomplex erinnert -, die sprachlich-literarische Ebene aber meist außen vor gelassen. Aber gerade hier, im Bezirk der Dichter und Denker, der Epen und Elogen, liegt ein wichtiger Zugang zu einem zentralen Aspekt psychoanalytischer Arbeit, denn die Sprache ist das eigentliche Instrument des Analytikers. Träume und Fantasien müssen sprachlich kommuniziert werden, um zugänglich zu sein, sie selbst sind und bleiben ungreifbar - wohl mit ein Grund, warum Freud den Traumbildern selbst keinen eigenen Stellenwert einräumte, sondern sie nur in Bezug auf einen formulierbaren "Traumgedanken" hin bewertete. Das Vermitteln der Träume, das freie Assoziieren, der Rat des Arztes - all dies funktioniert nur über die Sprache. Kein Wunder, dass die Psychoanalyse schon früh für Semiotiker und Linguisten interessant wurde.

Jedoch haben sich daran schon früh Kontroversen über die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse entzündet. Freuds Konzentration auf die Sprache widersprach der positivistischen und streng materialistischen Ausrichtung der Medizin und Psychologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts, welche das "Unbewusste", wenn sie es überhaupt akzeptierte, lediglich als Epiphänomen des Nervensystems gelten ließ. Die Vorstellung, Träume seien deutbar, erschien Freuds Kollegen als ein Rückfall in Aberglauben und Spiritisterei.

Hier setzt Traverso ihren Hebel an. Freud habe gewissermaßen die Flucht nach vorn angetreten, sich von den "exakten Naturwissenschaften" abgewandt, eine hermeneutische Theorie konstruiert und dazu gleich mehrfach die Antike herangezogen. Traverso nennt Freuds Bezug auf die antike Traumdeutung und die Traumtheorien von Aristoteles und Artemidor, mit der er seine psychologische Methode in eine Jahrtausende alte Tradition stellt. Deutlich wird dies in ihrer ausführlichen und fundierten Besprechung des Titels "Traumdeutung" und des lateinischen Mottos, das Freud dem Text voranstellt, wobei sie mehrere bislang unbeachtete Faktoren ans Licht holt.

Außerdem zieht Traverso Freuds intensive Lektüre antiker Epen heran, bei denen er sich vor allem für die Elemente der "Katharsis" und "Katabasis" interessiert habe. In den "Studien über Hysterie" entwickelten Freud und Breuer eine an antiken Besessenheitsvorstellungen und deren Heilung geschulte kathartisch funktionierende Therapie zur Reinigung der Psyche. In den Schriften um die Traumdeutung macht Freud die Unterweltfahrten ("Katabasis") von Helden wie Odysseus oder Aeneas zu Vorbildern des therapeutischen Prozesses. Wie der Held in die Unterwelt hinabsteige und erst nach der Erfüllung seiner Aufgaben zurückkehren könne, so steige der Patient in sein Unbewusstes hinab, um durch Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten seine psychischen Probleme zu bewältigen. Die antiken Unterweltfahrten, wie Freud sie in der antiken Epik vorfand, fungieren laut Traverso als Metapher des Abstiegs ins Unbewusste. Der Freud-Schüler Otto Rank greift diesen Gedanken wieder auf, C. G. Jung macht daraus das wohl wichtigste Element seiner eigenen Psychologie; es wäre interessant, daraufhin mit Traverso das frühe Verhältnis zwischen Freud und Jung zu überdenken.

Der Wert von Traversos Untersuchung liegt darin, geläufige Elemente der Antikenrezeption Freuds einer neuen Bewertung unterzogen und deren Bedeutung neben und außerhalb der Mythologie in der Früh- und Entwicklungsphase der Psychoanalyse herausgearbeitet zu haben. Die enge zeitliche Beschränkung ermöglicht dabei eine sehr dichte und gründlich recherchierte Darstellung.

Titelbild

Paola Traverso: "Psyche ist ein griechisches Wort...". Rezeption und Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud.
Übersetzt aus dem Italienischen von Leonie Schröder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
302 Seiten, 11,00 EUR.
ISBN-10: 351829170X

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