Dreimal täglich eine halbe Judith Butler und viel Bettruhe!

Jochen Hörischs "Theorie-Apotheke" will an die Heilkräfte der "Humanwissenschaften" erinnern

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wahrheitsbegriffe gab und gibt es, wie ein Blick in die Geschichte des Denkens lehrt, viele. Knapp zwanzig von ihnen kann Jochen Hörisch im Vorwort seiner "Theorie-Apotheke" aufzählen, vom "Autoritäts-" bis zum "Offenbarungsbegriff". Der Mannheimer Literatur- und Medienwissenschaftler selbst vertritt, wie bereits der Titel seines Plädoyers für die aus der Mode gekommenen "humanwissenschaftlichen" Theorien nahe legt, einen "apothekarischen" Wahrheitsbegriff: Wahr ist demnach, was uns heilt. Eine pragmatische, gänzlich unmilitante, eben postmoderne Sichtweise, die sich auf Wittgenstein, Nietzsche und Feyerabend als Kronzeugen berufen kann.

Wer in den potenziellen "Heilkräften" einer Sache ihre Rechtfertigung sieht, geht davon aus, dass es auch etwas zu heilen gibt. Die Krankheiten und Versehrungen, die Hörisch im Blick hat, wenn er an den Gebrauchswert geistes- und kulturwissenschaftlichen Instrumentariums erinnert, sind vor allem das WTC-Attentat und seine Ursachen und Folgen, also der befürchtete clash of civilizations: "Die Probleme, die uns zu Beginn des dritten Jahrtausends erneut so irritierend zusetzen, sind geradezu beschämend anachronistische Probleme, zu deren Lösung Biogenetik, Neurophysiologie oder Astrophysik wenig beitragen: nämlich Probleme mit Gott, Fanatikern aller Art, Kulturen, die uns fremd bleiben, Konfliktlogiken, Verständigungsschwierigkeiten, Affektlagen, Fragen der Gerechtigkeit, des Geschlechterverhältnisses, des Mediengebrauchs, der Kindererziehung, der Technikfolgen und der Umweltzerstörung."

Sieht man einmal von der Frage ab, inwiefern die durch den Mediengebrauch oder die Technikfolgen entstehenden Probleme "beschämend anachronistisch" sind: Angesichts dieser alles in allem richtig beschriebenen Situation muss man in der Tat kein Prophet sein, um wie Hörisch von einem Comeback der "Humanwissenschaften" auszugehen, die ja seit geraumer Zeit ihr Dasein im Schatten der hard sciences fristen. Denn: "Zu den möglichen Gewinnen einer Beschäftigung mit den in dieser 'Theorie-Apotheke' vorgestellten humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre gehört es, sowohl zögerlicher als auch virtuoser beim Urteilen und Beurteilen vermeintlich eindeutiger Lagen zu werden."

Umso bedauerlicher, dass Hörisch diesen schlagenden Ausgangspunkt in den folgenden Kapiteln, die alphabetisch geordnet jeweils eine Theorie vorstellen, von Analytischer Philosophie und Cultural Studies über Hermeneutik, Konstruktivismus und Medientheorie bis zur Systemtheorie, nur selten aufgreift. Was nun aus der Kritischen Theorie, den Selbstbewusstseinstheorien oder Sartres Existenzialismus für die Auseinandersetzung mit Islamismus und Terrorismus folgt, bleibt unklar. Da nutzt es auch wenig, dass Hörisch auf die Darstellung einer Theorie stets die Wertung, bildgerecht "Wirkungen, Risiken und Nebenwirkungen" benannt, folgen lässt. Weshalb sich bald der Verdacht aufdrängt, dass die originelle Heilmittel-Metapher, die Hörisch in Vor- und Nachwort ausbreitet, im Verein mit der Gegenwartsdiagnose wenig mehr ist als der Versuch, die Publikation in der noblen "Anderen Bibliothek" zu rechtfertigen.

Denn dafür gibt es eigentlich keinen Grund; diese Einführung hätte man sich ebenso gut bei Verlagen wie UTB oder Junius vorstellen können. Was durchaus nicht abwertend gemeint ist: Hörischs einführenden Texte sind überwiegend solide, lebendig und auf sympathische Weise respektlos geschrieben. Wenn man ihnen auch die unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen des Autors anmerkt - man vergleiche nur die Kapitel zur Diskurs- und zur Medientheorie mit denen über Gerechtigkeitstheorie oder Hermeneutik -: Fast immer schaffen sie es, dank Hörischs Mut, "gnadenlos zu vereinfachen", die zentralen Gedanken der vorgestellten Theorien ebenso herauszuarbeiten wie die Probleme, an denen sie sich entzünden.

Theorie-Designs werden skizziert und die Karrieren von Schlagworten beschrieben, auf die Zeitbedingtheit von Theoriemoden wird ebenso hingewiesen wie auf Wissenswertes für den akademischen Gebrauch: "Aussichtsreicher ist es heutzutage bei der Beantragung von Drittmittelprojekten jedoch, statt von Anthropologie von 'Lebenswissenschaften' zu sprechen und entbundene Inter-, Meta- und Transdisziplinarität zuzusichern." Neben solch netten ironischen Schlenkern findet sich jedoch auch manch Banales wie etwa: "Unverkennbar attraktiv war und ist Adornos Denken für alle Köpfe, die an einem ehrgeizigen Programm der Philosophie festhalten, aber dennoch nicht hinterwelt- bzw. hinterwäldlerisch orientiert sein wollen."

Auf etwas peinliche Weise aus dem Rahmen fällt das Kapitel über Feminismus und Gender Studies. Als angeblich erfolgreichste Theoriebildung nach 1950 wird darin der Feminismus offenkundig nur deshalb gefeiert, um den Frauen nahe zu legen, es doch endlich gut sein zu lassen, schließlich habe frau die Sache mit der Gleichberechtigung doch längst schon viel zu weit getrieben: "Frauen, die von einem männlichen Kollegen drei Sekunden zu lange angeschaut werden, können zur Frauenbeauftragten gehen und sich beschweren; die Definitionsmacht ist weitgehend in weiblichen Händen und Mündern." Darüber, welche Nebenwirkungen und Risiken jener "Postfeminismus", wie Hörisch ihn den Frauen empfiehlt, in sich birgt, verrät seine "Theorie-Apotheke" leider nichts. Weshalb man dem Autor vorerst nur raten kann: Dreimal täglich eine halbe Judith Butler und viel Bettruhe!

Titelbild

Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
323 Seiten, 28,50 EUR.
ISBN-10: 3821845309

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