Körper(los) im virtuellen Raum

Valeska Lübkes Studie zu Geschlecht und Körper im Internet

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während im Cyberspace die virtuellen Geschlechter mit- und umeinander kämpfen, streiten Feministinnen in Schreibstuben über deren Möglichkeiten und 'Wirklichkeiten'. Neigten in den 90er Jahren Gender-Theoretikerinnen wie Sadie Plant oder Sherry Turkle dazu, das Gender-Paradies unmittelbar hinter dem screen zu vermuten, so lauerte für feministische Cyberpunk-Autorinnen wie Marge Piercy dort eine Hölle, in der auch die Geschlechter brieten. Eine 'Frontstellung' die in dem von Mary Flanagan und Austin Booth 2002 herausgegebenen Sammelband "reload - rethinking women + cybercultur" dokumentiert und auf erhellende Weise diskutiert wurde. Inzwischen sind jedoch auch unter feministischen WissenschaftlerInnen skeptischere Stimmen wie etwa diejenige von Veronika Eisenrieder zu vernehmen. (vgl. literaturkritik.de 11/2003)

Nun greift auch Valeska Lübke mit ihrer Dissertation "CyberGender" in die Diskussion um "Geschlecht und Körper im Internet" ein und legt eine differenzierte Stellungnahme vor. Den Ausgangspunkt ihrer Untersuchung bildet die "Spannung zwischen optimistischen und pessimistischen Positionen sowie die Diskussion um das konstruktivistische Potential des Internet in Bezug auf die Geschlechterkategorie", wobei sie sich allerdings nicht auf literarische Werke, sondern nur auf den Wissenschaftsdiskurs bezieht. Um Geschlechter-, Körper- und Raumsoziologie mit dem "Phänomen Internet" zu verknüpfen, bewegt sich Lübkes Studie auf zwei Ebenen: einer empirischen und einer theoretischen. Zum einen fragt die Autorin, ob und wie sich die Teilnahme von Frauen und Männern am "Netzgeschehen" unterscheidet, zum anderen erörtert sie, "ob das Internet die Kategorie Geschlecht und die damit verbundenen Grenzziehungen revolutionieren kann".

Bevor Lübke die "Geschlechter- und Körper-Aspekte vor dem Hintergrund des virtuellen Raums" ausleuchtet, diskutiert sie die "grundlegenden Analysekategorien 'Geschlecht', 'Körper' und 'Raum' unter den Vorzeichen der Postmoderne". In diesem theoretischen Teil sagt sie Kluges über den Ansatz von Judith Butler, das teilweise zwar schon mehrfach gesagt, aber von einigen Feministinnen gerade in Deutschland immer noch nicht verstanden worden ist, und somit von Lübke durchaus zu Recht noch einmal wiederholt wird. Darüber hinaus verteidigt sie Butler erfolgreich gegen allerlei - oft auf Missverständnissen beruhende - Einwände. So stellt sie etwa klar, dass der "Vorwurf einer unberücksichtigten leiblichen Affektivität Butler nicht treffen" kann, "weil sie [Butler] gerade die Kausalität von Sex, Gender und Begehren anprangert und als Konstrukt enttarnt wissen will".

Doch haben die drei theoretischen Kapitel "Kategorie Geschlecht", "Reale und virtuelle Körper" und "Das Netz als sozialer Raum" noch mehr zu bieten: Thesen, die zwar nicht immer brandneu sind, aber selten in derart griffige Formeln gefasst wurden. "[D]ass MUDs subversives Potential für Geschlechterverwirrungen bereithalten, praktisch aber die Spielregeln und die Normen- und Wertemuster in erster Linie von männlichen Spielern und Programmierern bestimmt werden", ist schon eine Weile bekannt und wurde so oder so ähnlich auch schon gesagt. Auch dass Gender in computergestützter Kommunikation "nicht als pre-formed, sondern als per-formed" betrachtet werden muss, ist nicht neu, wurde bislang aber noch nicht so genau auf den Punkt gebracht. Neuer hingegen ist der Gedanke, "dass auch im Cyberspace, gerade mit Hilfe neuer Formen der Verkörperung 'Leiblichkeit' nicht obsolet wird, sondern vielmehr dazu beiträgt, virtuellen Wirklichkeiten eine Qualität von Sozialität zu geben". Aus ihm leitet Lübke ihre wichtigste, innovativste und fast schon aphoristisch formulierte These ab: "Wir können in der virtuellen Realität zwar 'Körper haben', 'Körper sein' hingegen nicht." Daher, so führt sie ihren erhellenden Gedankengang fort, werde der "leibliche Körper" zur "Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität", wobei uns der "an absolute Örtlichkeit gebundene" Leib "mitsamt seinen Sinnen" der 'Wirklichkeit' versichere.

Gegenüber den mit Gewinn zu lesenden theoretischen Teilen fallen die empirischen allerdings um einiges ab. Die beiden an Statistiken reichen - und so etwas ermüdenden - Abschnitte "Bundesdeutsche Internetpopulation" und "Netz als Gender-Werkstatt" beschränken sich im Wesentlichen darauf, Ergebnisse von empirischen Untersuchungen anderer Forscherinnen zusammenfassend zu referieren. Neuland betritt die Autorin hingegen wieder mit dem dritten empirischen Abschnitt "Wie Chatterbots Menschen werden". Hier stellt sie die Ergebnisse einer von ihr selbst durchgeführten explorativen Studie zum Gender dreier "konservationsfähige[r] Software-Agenten" vor: "Leo, der Barkeeper", "Pia, die persönliche Internet-Assistentin" und "Quincy, der Portier", anhand derer sie zeigen kann, "dass die Auflösung der Grenze zwischen Mensch und Maschine weniger beunruhigend zu sein scheint als die Auflösung der Geschlechtergrenze".

Im Fazit ihrer Untersuchung stellt Lübke zunächst fest, dass der Körper - auch der Geschlechtskörper - in "virtuellen Interaktionen" nicht obsolet sei. Vielmehr komme der Simulation von "leiblich-affektiven Zuständen" bei der "Herstellung von Glaubwürdigkeit" besondere Bedeutung zu. Sodann verdichtet die Autorin die eingangs angesprochenen feministischen und gender-theoretischen Auseinandersetzungen zu der Frage, ob die "changierenden, flimmernden und schillernden CyberGender" die "Geschlechter der Postmoderne" sind. Eine eindeutige Antwort hat Lübke allerdings nicht anzubieten. Denn einerseits zeigten die ausgewerteten empirischen Erhebungen, dass geschlechtliche Eindeutigkeit auch im Netz eingefordert werde, besonders vehement etwa in "flirtorientierten" Chats. Andererseits machen sie aber auch deutlich, dass das Netz weiterhin als "Identitätswerkstatt" fasziniert und dazu einlädt, "mit den Geschlechterrollen zu experimentieren". Dass solche Einladungen nicht nur abgelehnt, sondern auch immer mal wieder angenommen werden, zeigen nicht zuletzt die virtuellen Rollenspiele in verschiedenen MUDs. Doch wird man wohl hinzufügen müssen, dass die einst ans Netz geknüpften gender-utopischen Blütenträume inzwischen etwas welk geworden sind.

Titelbild

Valeska Lübke: CyberGender. Geschlecht und Körper im Internet.
Ulrike Helmer Verlag, Königstein/Taunus 2005.
269 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-10: 389741175X

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