Das Röcheln der Archive

Thomas Klings Gedichtband "Fernhandel"

Von Nicolai KobusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicolai Kobus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"gedicht ist immer ahnenstrecke. fotostrecke, angereichert und,/ ganz klar: gefälscht. wodurch die ahnenstrecke wahr wird erst./ gedicht ist schaltung;/ reportage klang" - Wir schalten jetzt rüber zu Thomas Kling, Dichter, live aus dem "unfriendly fire" vom Schlachtfeld Verdun. Wir sind auf Sendung: "verschwimmend die bilder/ ausm stand (unterstand); verschwommen aufspringende, hoch wegspritzende/ fontänen. außenaufnahmen. von männern gemachte menschnfontänen. erde". Was in einem zynischen Spiel mit den "Modefarben 1914" beginnt ("ciel./ ist der verdrehte himmel./ blue pills und stahlparkett [...] ab herbst war dann/ das kleine schwarz natürlich/ angesagt."), führt sehr schnell in die schlammigen Schützengräben und zu den zahllosen Kriegerwitwen ("trockengefallene hinterbliebenenlippe mundtote frauenlippe nicht im bild die/ einstürzende fallende lippe der verlobten gerodete zunge kahlschlag der blick").

Thomas Kling ist in die Archive hinabgestiegen und berichtet im Eingangszyklus seines neuen Gedichtbandes als zeitreisender Reporter in einer irrwitzigen Collage aus Dokumenten, Bildern und O-Tönen vom Ersten Weltkrieg. Hart werden Szenen des Grauens, biografische Stenogramme, zeitgeschichtliche Sequenzen, pervertierte Naturskizzen, Briefausrisse und Kommentare aus dem Off gegeneinander geschnitten. Kriegsberichterstattung als rasanter Multimedia-Clip (dass die Verlage immer öfter ihre Dichter auch auf beigefügten CDs zu Wort kommen lassen, mag vielfach bloße Mode sein, hier ist es Teil des Programms).

Die "ahnenstrecke", die Kling aus unzähligen Schnipseln, Splittern, Bruchstücken zusammenlegt, ist jedoch nicht der Versuch einer historischen Rekonstruktion, die ein Kontinuum sich ergaukelt, wo eigentlich nur disparate Trümmer sind. Sie ist eher im Sinne Foucaults als eine Genealogie zu verstehen, die in der Herkunft gerade die kleinen und größeren Sprünge, die winzigen Abweichungen und gravierenden Brüche aufspürt, hinter denen eben nicht die Konsistenz des Seins, sondern die "Äußerlichkeit des Zufälligen" steht. Daher wird das historische Material (die vergilbten Postkarten, die verwackelten Bilder und "gehäckselten handschriften") bei Kling sehr durchlässig; es führt uns auf die "aschenplätze der geschichte CNN Verdun. es öffnen zeigen// landschaften ihre körper den geöffneten körpern: sie öffnen sich dem vergessen./ diese körperlandschaft zeigt sich: wände spitzen schroffen querverschneidung; zeigt/ sich wenn die zunge sichtbar als organbank wird, als bilderclaim. als sprachbank". Auch das ist Foucault in der Verschränkung von Körper und Geschichte als Ansatzpunkt einer Genealogie, die sich nicht auf die verengte Perspektive des Historikers reduzieren läßt. Tatsächlich findet hier ein "Fernhandel" statt: eine massive Warenbewegung, ein Materialaustausch über die Zeiten hinweg, der einzig gesteuert wird durch das hocheffektive Leitsystem der Sprache - "auf kopfanfachung läuft das hinaus", heißt es am Schluß des Bandes im vielstimmigen "Drostemonolog", deren "schrei-/ schreibchaos" doch immer wieder strukturiert wird durch ihre "handschrift, die sich überlagert, blöcke/ bildet. buchstabm, eignsinnign buchstabm,/ die sich formieren vor ihren augn, auf ab-/ gerissenen papieren."

Es fällt auf, wie oft sich in der deutschsprachigen Lyrik der letzten Jahre mitunter die Themen, Topoi und Sujets ähneln oder überschneiden: der Erste Weltkrieg, Mythologische Motive, Rückgriffe auf den Textkanon der klassischen Antike. Allein innerhalb einer einigermaßen exponierten Trias mit Raoul Schrotts "Tropen", Durs Grünbeins "Nach den Satiren" und eben Thomas Klings jüngstem Buch sind die Entsprechungen bemerkenswert. Das ist zu Teilen sicherlich eine Abkehr von der subjektivistischen Lyrik der 80-er Jahre, gewiß aber auch jenem genealogischen Antrieb geschuldet. Doch auch formal läßt sich, nicht nur bei diesen dreien, eine Hinwendung zur Langzeile, zum Langgedicht sowie zur zyklischen Anlage der Texte ausmachen - die expansive Eigendynamik des Materials oder schlicht das Mißtrauen gegenüber dem knappen, konzisen lyrischen Solitär?

Auch bei Kling, dem vormals stets vom "sprachverlust" bedrohten Mikrotechniker des Wortes, überrascht auf den ersten Blick die Wortgewaltigkeit, das Ausufernde der lyrischen Rede. Kaum eine Spur mehr, so scheint es, von der verbissenen Arbeit am Phonem, von der Reduktion auf die mikroskopischen Strukturen eines Textes wie seinerzeit noch in "morsch". Nur die typische Vokalelision bei nasalen Wortendungen, ehedem ein Signal für den chirurgischen Umgang Klings mit seinem Material, scheint als manieristischer Rest geblieben. Ansonsten erwecken die großen Zyklen dieses Bandes eher den Eindruck eines Hangs zum ausgreifenden Geschichtenerzählen. Aber der Schein trügt: Kling ist seinen Methoden und seiner Haltung treu geblieben. Das Narrative ist vorgeschoben, den Leser eine Weile in Sicherheit zu wiegen, nur um ihn dann umso mitleidloser darauf zu stoßen, daß hinter den Scheinerzählungen und Reportagen kein festes Kontinuum, kein durchgängig greifbarer Gedankengang existiert, an dem sich Halt finden ließe. Die Quantität der Wörter ist keine schiere Fülle, sondern Ausdruck einer gnadenlosen Freiheit der Fläche. Alles ist verfügbar, greifbar, montierbar -und auf horizontloser Fläche gleichwertig präsent. Diese überzeitliche Präsenz in der Montage bis in die kleinsten Verästelungen der Sprache hinein wirken zu lassen, darin besteht das verblüffende Können Klings. Daß aber hinter all dem manischen Benennen von Dingen und Evozieren der Bilder umso drohender die Angst vor dem Sprachverlust aufsteigt, macht die eigentlich ästhetische Qualität seiner Texte aus.

Es ist wie im zweiten großen Zyklus des Bandes: Actaeon (nach Ovid) hat auf der Jagd großes Glück, die göttliche Diana beim Baden in ihrer gänzlich nackten Pracht betrachten zu dürfen, wird jedoch darauf zur Strafe in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerrissen; "hirschgulasch" heißt es bei Kling lapidar. Die wirkliche Konsequenz aber bringt er über zwei schmerzliche Zeilenumbrüche auf den Punkt: "gebisse, risse/ gehen durch den Actaeon; die beinah stumme männer-/ gurgel. so ohne körper, ohne strom" - was bleibt, ist das Röcheln der Archive.

Titelbild

Thomas Kling: Fernhandel.
DuMont Buchverlag, Köln 1999.
102 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3770149521

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