Der Karneval des Kaufmanns

Erich Kästners publizistische Texte aus der Leipziger Zeit - erstmals herausgegeben von Klaus Schuhmann

Von Heike NiederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Nieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Autoren, die lassen sich nicht einordnen. Und gerade wenn man glaubt, jetzt hätte man ihnen endlich alle Etikettschildchen aufgeklebt, wird man genötigt, ein neues zu malen. Und noch eins. Und noch eins.

Einer von diesen Autoren ist Erich Kästner. Dass Kästner neben Kinderbüchern, Romanen für Erwachsene, Gedichten, Drehbüchern und Dramen auch journalistische Arbeiten verfasst hat, wissen Interessierte schon seit 1989, als Alfred Klein erstmals Kästners Artikel für die "Neue Leipziger Zeitung" (NLZ) in zwei Sammelbänden herausgab. Doch dass sich die publizistische Produktion Erich Kästners während seiner Studienjahre nicht nur auf die NLZ beschränkte, sondern im Gegenteil eine beträchtliche Anzahl von Zeitungen und Magazinen umfasste, ist bis heute nur Fachmännern bekannt. Das wird sich jetzt ändern: "Der Karneval des Kaufmanns" heißt der 491 Seiten starke Sammelband, herausgegeben von Klaus Schuhmann, der dem Leser erstmals einen umfassenden Überblick über die von 1923 bis 1927 erschienenen publizistischen sowie literarischen Texte des jungen Erich Kästner bietet. Wie Schuhmann versichert, sind etwa zwei Drittel der Beiträge seit den 20er Jahren nicht mehr gedruckt worden.

Wer die Sammlung durchblättert, wird schnell feststellen, dass sich Kästner auf dem weitläufigen journalistischen Terrain genauso mühelos hin und her bewegt hat, wie auf dem der Literatur. Denn genau wie in seinem 1925 erschienenen Artikel "Der Karneval des Kaufmanns", wo Kästner das bunte Treiben auf der Leipziger Messe schildert, auf der es "Schnürsenkel und Stromanlagen, Druckknöpfe und Ackermaschinen, Hüfthalter und Kinderspielzeug" zu kaufen gebe, legt auch der junge Kästner ein buntes Nebeneinander an unterschiedlichsten Textsorten vor. Dabei fällt auf, dass Kästner bis einschließlich 1925 hauptsächlich kurze Erzählungen, Gedichte, Aphorismen sowie Theater-, Literatur- und Ausstellungskritiken veröffentlichte, sich ab 1926 jedoch verstärkt politischen Themen zuwandte. Hier erstaunt die Weitsichtigkeit, mit der der junge Kästner politische Ereignisse zu kommentieren vermochte. So schreibt er über die Verbrennung von Werken der spanischen Autoren Unamuno und Ibanez: "Mit diesem Schritt ist das 20. Jahrhundert auf dem Scheiterhaufen angekommen; seine Konkurrenz mit dem Mittelalter verspricht Erfolg." Überhaupt, viele von den Themen, mit denen sich der gereifte Kästner später einen Namen machen wird, keimen bereits in diesen frühen Texten: Sein unbedingtes Engagement für die Demokratie und den Parlamentarismus, sein konsequenter Antimilitarismus. So schreibt er 1927 in dem Artikel "Professoren an die Front!": "Professoren, bekennt euch zur Republik! Zum demokratischen Gedanken! Zum sozialen Empfinden! Es ist an euch, denn die Jugend hat versagt." Überhaupt verraten diese frühen Werke Kästners einiges über ihren Autor und seinen Lebenswandel im Leipzig der 20er Jahre - nicht nur, welche politischen Ansichten er vertrat, sondern auch, wie er als Student lebte, womit er sein Geld verdiente, welche Bekanntschaften und Freunde er hatte.

Aufschluss über Letzteres geben auch die Leipziger Briefe Erich Kästners an seine Mutter, die Schuhmann ebenfalls in diesem Sammelband erstmals vollständig und ungekürzt veröffentlicht. Da kommt so manches ans Licht über den jungen Erich Kästner, der zwar späterhin immer wieder postulierte, der Mensch solle auf sein Gewissen hören, sich selbst damit aber - zumindest wenn es um Frauen ging - relativ schwer tat. Die ehemalige Lebensgefährtin Erich Kästners, Luiselotte Enderle, hatte 1981 die "Muttchen-Briefe" herausgegeben, die frauenfeindlichen Äußerungen Kästners aber einfach weggelassen. So schreibt Kästner am 5. Oktober 1926 über seine ehemalige Freundin Ilse: "Denn sie und ich sind es den 8 Jahren [...] schuldig, ehrlich und offen [...] auseinander zu gehen. Und nicht wie kleine Dienstmädchen, die sonst aber das große Maul haben und sagen, die moderne Frau sei dem Mann ebenbürtig. Ilses Betragen hat gezeigt, daß sie ein kleines dummes Ding ist wie jedes andre beliebige Mädchen." Aussagen wie diese zeigen einmal mehr das ambivalente Gesicht Erich Kästners, der einerseits stets eintrat für Gleichheit und Menschenwürde und der andererseits in seinem Privatleben diesen Ansprüchen nicht immer gerecht wurde.

So ist dieser Sammelband nicht nur für den Kästnerfan ein interessanter und lehrreicher Zeitvertreib, sondern durch die zahlreichen bisher unveröffentlichten Texte und Briefstellen auch ein in Zukunft unentbehrlicher Schatz für die wissenschaftliche Kästnerforschung. Eine Anschaffung lohnt sich somit auch für jede gut sortierte Bibliothek.

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Erich Kästner: Der Karneval des Kaufmanns. Gesammelte Texte aus der Leipziger Zeit 1923-1927.
Herausgegeben von Klaus Schuhmann.
Lehmstedt Verlag, Leipzig 2004.
491 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3937146172

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