Flimmernde Luft

Zeitgenössische Lyrik aus dem Grenzraum Schweiz - Italien

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manches Projekt hat eine sympathische Vorgeschichte. Da treffen sich hin und wieder ein paar junge Leute, um sich der gemeinsamen Lektüre italienischer Literatur des 20. Jahrhunderts zu widmen. Man liest auch die Dichter, und an der deutschen Version eines Gedichts von Eugenio Montale entzündet sich eine angeregte Diskussion. Man äußert von allen Seiten ein Unbehagen an der Übersetzung und entschließt sich spontan, dem Mangel abzuhelfen. Es entsteht eine eigene, gemeinsam angefertigte Übertragung. Im Nachhinein erweist sich dies als die eigentliche Geburtsstunde eines schließlich viel weiter führenden Vorhabens. Jaqueline Aerne, Orlando Budelacci und Thierry Greub versuchen sich an weiteren Übersetzungen, und schon bald schmiedet man Pläne zu einer zweisprachigen Anthologie. Mit dem Limmat Verlag in Zürich kann alsbald ein Verlag gewonnen werden, der in zweisprachigen Gedichtbänden erfahren ist. Es fehlen noch ein paar Geldgeber für das Finanzielle. Doch auch diese sind bald gefunden.

Das Resultat: Eine schöne Anthologie, die insgesamt sieben Italienisch schreibende Dichter und eine Dichterin zusammenbringt, die alle in bestimmter Hinsicht im Grenzraum Schweiz-Italien verwurzelt sind. Manche überschreiten sowohl biografisch als auch in ihrem Werk solche Grenzen, und nicht nur topografisch. Knapp 120 Gedichte von Lyrikern, die alle nach 1950 geboren sind: Stefano Raimondi, Massimo Daviddi, Alida Airaghi und Pietro De Marchi sind in Italien geboren; Fabio Pusterla, Antonio Rossi und Pierre Lepori stammen aus dem Tessin. Dubravko Pušeks Heimat schließlich liegt in Kroatien, doch kam er mit 10 Jahren ins Tessin. Sie alle haben jeweils Verbindungen über die Landesgrenze hinweg: Mancher Italiener publiziert im Tessin, die Schweizer haben in Italien studiert oder wohnen dort, und so weiter.

Gerade für die Schweizer unter den versammelten Autoren gilt schon immer eine doppelte kulturelle Zugehörigkeit. Sie sind auf der einen Seite über die Sprache mit dem italienischen Kulturraum und der literarischen Tradition verbunden, was in intertextuellen Anspielungen in den Gedichten immer wieder zum Ausdruck kommt. Doch schreiben sie sich gleichzeitig auch in die Schweizer Wirklichkeit ein. Viele Tessiner Dichter betätigen sich überdies als Übersetzer aus anderen Landessprachen. Antonio Rossi hat beispielsweise Robert Walser und Niklaus Meienberg ins Italienische übertragen. Manche leben in anderen Landesteilen, wie etwa Pierre Lepori in Lausanne. Man geht wohl nicht falsch in der Annahme, dass gerade diese "conditio scribendi" den Blick für Grenzen und Grenzüberschreitungen schärfen kann und sich im lyrischen Schaffen niederschlägt.

Die Herausgeber und Übersetzer der Anthologie kommen nicht alle aus der Welt der Literaten. Allein Jaqueline Aerne ist Literaturwissenschafterin und mit der Lyrik auch "beruflich" vertraut. Sie hat eine Magisterarbeit über den Nobelpreisträger Eugenio Montale verfasst und arbeitet gegenwärtig an einer Dissertation zum Werk Flavio Pusterlas, der in der Anthologie vielleicht auch deshalb etwas umfangreicher vertreten ist als die anderen. Orlando Budelacci hingegen hat über Kants politische Philosophie promoviert, Thierry Greub als Kunsthistoriker über Johannes Vermeer. Besondere Erwähnung verdient das Vorgehen der drei beim Übersetzen der Gedichte. Es sind alles Kollektivübersetzungen, die Autoren verantworten jede deutsche Übertragung gemeinsam. Dazu musste oft lange diskutiert werden, und es gab bei mehreren zur Diskussion stehenden Varianten auch schon mal eine demokratische Abstimmung, die zwei zu eins endete. Der jeweilige persönliche Anteil am Endresultat wird aber bewusst nicht transparent gemacht.

Unter den in der Anthologie vertretenen Lyrikern dürfte Fabio Pusterla der Bekannteste sein. Bereits an seiner Biografie kann man den Grenzgänger exemplarisch nachvollziehen. Geboren 1957 im südlichsten Zipfel des Tessins, lebte er heute nur wenig jenseits der Grenze in Italien. In Pavia hat er studiert, in Lugano unterrichtet er am Gymnasium. Pusterla ist seit Mitte der 80er Jahre mit mehreren Gedichtbänden hervorgetreten, hat sich aber auch als Übersetzer einen Namen gemacht. Er hat Philippe Jaccottet ins Italienische übertragen, der übrigens selbst Grenzen überschreitet: Der geborene Westschweizer lebt seit Jahren in Frankreich. Pusterla ist ein gelehrter Dichter, der sein Schaffen gerne kommentiert, etwa durch erhellende Anmerkungen in den Bänden selbst, aber auch durch Erläuterungen während der Lesungen. Der Limmat Verlag hat vor drei Jahren bereits eine zweisprachige Auswahl aus Pusterlas Werk herausgegeben, "Solange Zeit bleibt. Dum vacat". Diese Gedichte hatte der kürzlich verstorbene Hanno Helbling übersetzt. Ein großer Teil der Gedichte Pusterlas wird nun im hier besprochenen Band wieder aufgenommen. Der Verlag macht sich somit zwar ein wenig selbst Konkurrenz, doch erhält dafür der Leser die reizvolle Möglichkeit, die deutschen Übersetzungen einem Vergleich zu unterziehen. Die neuen Übertragungen scheinen sich vielfach sprachlich näher am Original zu orientieren und sind doch nicht minder poetisch ausgefallen: "Sonno di Claudia e di Nina // Dicevi che di giorno / il buio sta negli armadi, / o dietro i monti, / e viene fuori solo verso sera, / quando si può dormire / e aver paura. / Però stanotte è insonnia, luna piena, / e dietro ogni fessura pulsa l'aria / magnetica, indovino / quasi ogni piega dei boschi. / Così conto i respiri / a voi, corpi qui accanto: un'onda lunga / che sale piano e scende, che ritorna, / e sotto abissi, danza di murene." ("Schlaf von Claudia und Nina // Du sagtest, dass am Tag / die Dunkelheit in den Schränken bleibt, / oder hinter den Bergen, / und nur gegen Abend herauskommt, / wenn man schlafen / und Angst haben kann. / Doch die heutige Nacht ist schlaflos, / Vollmond, / und hinter jeder Ritze flimmert die Luft / magnetisch, beinahe kann ich / jede Falte der Wälder erraten. / So zähle ich euch die Atemzüge, / Körper neben mir: eine lange Woge, / die langsam steigt und sinkt und zurückkehrt, / darunter Abgründe, Tanz von Muränen."

Insgesamt erfreut die Sammlung den Lyrikliebhaber sehr. Auf ihn wartet manche Entdeckung. Besonders von Stefano Raimondis Gedichten wünscht man sich bald noch mehr auf Deutsch. Die "Titelzeile" der Anthologie, "il peso di un foglio girato", stammt übrigens von ihm. Immerhin lassen die abgedruckten Gedichte bereits etwas vom leisen Beharren dieser Lyrik erahnen, die in oft kreisförmigen, repetitiven Bewegungen insistiert: "... ich pflege dich als wärst du mein Alphabet. // So habe ich dich noch nie umarmt, / so dünn und nackt, gebunden, / gekrümmt, missmutig / bis tief in meine Brust. / Noch nie habe ich dich so umarmt / und vielleicht hast nicht einmal du soviel / zerbrochenen Atem erwartet, soviel Mitleid." Was bei einer Anthologie wohl unvermeidlich, deshalb aber nicht weniger schade ist - gerade bei Raimondi, aber auch bei Pusterlas "Bocksten"-Gedichten -, ist die Auftrennung von Zyklen, aus denen nur ein Teil der Gedichte abgedruckt wird. Raimondis Gedicht wird nämlich durch das Ganze des Bandes "La città dell'orto" konkretisiert: Es liest sich als Anrede an den Vater, zugleich aber auch an die Stadt Mailand.

Der Band ist vorzüglich ediert und mit einigen knappen, doch sehr informativen Angaben zu den Autoren versehen. Und nicht zuletzt könnte sich das Auswahlkriterium, das die Grenzen "nationaler" Literaturen sprengen will, als Anregung für künftige Anthologien erweisen.

Titelbild

Das Gewicht eines gewendeten Blattes - Il peso di un foglio girato. Gegenwartslyrik im Grenzraum Schweiz Italien. Gedichte Italienisch und Deutsch.
Herausgegeben, ausgewählt, aus dem Italienischen übersetzt und mit einem Vorwort von Jacqueline Aerne, Orlando Budelacci und Thierry Greub.
Limmat Verlag, Zürich 2004.
270 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3857914610

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