Thomas Mann verstehen

Zu Geschichte und Gegenwart seiner Inanspruchnahme

Von Hermann KurzkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hermann Kurzke

Teil I: Thomas Manns Verstehen

In seinem berühmten, nicht abgeschickten Brief bzw. Briefentwurf vom Januar 1918 hat Heinrich Mann seinem Bruder Thomas, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland Partei genommen hatte, vorgeworfen, Elend und Tod der Völker auf die Liebhabereien seines Geistes zuzuschneiden. Damit ist eine unangenehme Bestimmung dessen gegeben, was Verstehen heißen kann, nämlich: eine Erfahrung auf die jeweiligen Liebhabereien zuzuschneiden. Denn das ist in der Tat häufig der Fall. Verstehen heißt Einfügen in ein subjektives System, heißt, das zu Interpretierende, sei es ein Mensch, ein Erlebnis, eine Nachricht oder ein Buch, in einem persönlichen Kosmos zu lokalisieren und zu identifizieren, ihm einen Namen aus dem persönlichen Bezeichnungsvorrat zu geben und ihm einen Platz anzuweisen im privaten Haus der gedeuteten Welt.

Der hermeneutische Idealismus, der Verstehen als objektive Erkenntnis interpretiert, ist im Zeitalter der Dekonstruktion aus der Mode gekommen. Beim Lesen eines Buchs wird nicht die Botschaft des Autors als zusätzliche Datenmenge im Gehirn gespeichert, sondern es wird das aufgenommen, was in das bereits bestehende Verstehensraster paßt, in den sogenannten Erwartungshorizont, und das abgewehrt, was diesem widerspricht. Dieser Erwartungshorizont ist eine Art Lochkarte, die nur an den vorgesehenen Stellen Informationen durchläßt, ungesuchte und ungewollte Informationen aber blockiert. Dekonstruktivistisch gesehen ist das Werk ein zersplitterter Spiegel, in dessen Scherben der Rezipient immer nur Bruchstücke seiner selbst wiederfindet.

Zweifellos gibt es auch Verstehen im Sinne von Dazulernen, denn irgendwann muß das Haus der Deutungen ja errichtet worden sein. Solches Lernen ist in der Regel anstrengendes Verstehen - anstrengend, weil es das Vor-Urteil (im Sinne Gadamers) nicht bestätigt, sondern ein neues Urteil setzt oder ein altes in Frage stellt und verändert. Lernen kann sich ergeben, wenn das Interpretandum keinen passenden Platz findet und deshalb ein neuer Platz geschaffen werden muß. Dieses Verstehen setzt als Erwartungshorizont eine suchende Haltung voraus, den Wunsch, sich erweitern und belehren zu lassen. Es weist nicht nur Zimmer an, sondern baut neue. Das geschieht naturgemäß eher selten. Das spontane Verstehen ist im Gegensatz dazu nicht lernend, nicht strapaziös, sondern wohltuend, beglückend, ja berauschend, eine Erfahrung der Horizontverschmelzung, des Zusammenklangs, der Übereinstimmung des Erfahrenen mit den Deutungsgewohnheiten. Als beglückend wird Verstehen empfunden, weil es ein Interesse befriedigt, einen Wunsch erfüllt oder ein Vor-Urteil bestätigt.

Wir kennen Thomas Manns Art des Verstehens aus der Art seines Umgangs mit Quellen. Er holt sich aus den Quellen das, was ihm ins Konzept paßt. Sein Selektionsraster erklärt sich meistens leicht aus dem jeweiligen Projekt. Er kämmt aus, was zweckdienlich ist. Seine Bleistiftanstreichungen markieren das, was er brauchen kann, nicht das, was der Autor des jeweiligen Buches für zentral hält. Sein Lesen ist interessengeleitet, nicht erkenntnis- oder gar wahrheitsorientiert. "Der Bleistift fährt begeistert an ganzen Seiten hin, schwer fallen Ausrufungszeichen inniger Zustimmung am Rande nieder", heißt es in den Betrachtungen eines Unpolitischen. Der Bleistift fährt nieder mit dem Ziel der Selbstbestätigung. Da sich der Bestätigungsbedarf im Laufe eines langen und wechselhaften Lebens immer wieder ändert, ändern sich auch die Suchmasken. Goethe dient als Kronzeuge für oder wider die Demokratie, je nachdem, ob Thomas Mann ihn 1916, 1921, 1932 oder 1949 braucht. Nietzsche dient als Kronzeuge des unpolitischen Betrachters der Weltkriegszeit, liefert aber auch Vorlagen für die demokratische Wandlung und das prosozialistische Engagement in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Wagner ist in den Betrachtungen der große Künstler, von dem man das Metier lernt, nach dem Zweiten Weltkrieg aber ein Vorläufer Hitlers - "gewiß, es ist viel ,Hitler' in Wagner" -, ganz nach aktuellem Bedarf. So gut wie nie werden Goethe, Nietzsche oder Wagner um ihrer selbst willen studiert.

Eine solche radikal rezeptionsorientierte, interessengesteuerte Hermeneutik scheint das zu Verstehende der Willkür des Rezipienten auszuliefern. Eine selbständige und umgrenzbare Botschaft des Interpretandums, nehmen wir an, es sei ein literarisches Kunstwerk, scheint es dann überhaupt nicht mehr zu geben. Dem "Tod des Autors" müßte insofern der Tod des Werks folgen, das sich zu einer Sammlung beliebiger Rezeptionen verflüchtigt. Eine so vernichtende, alles subjektivierende Konsequenz sehe ich allerdings nicht. Das Verhältnis von Kunstwerk und Leser wird zwar von den Leserinteressen dominiert, ist aber dennoch nicht völlig beliebig. Es ist vielmehr dem von Partitur und Orchester zu vergleichen. Die Partitur ist das Werk, das aufführende Orchester besteht aus der Einbildungskraft des Lesers, also dem Ensemble seiner ästhetischen, psychologischen, philosophischen und religiösen Prägungen und Lebenserfahrungen. Um beispielsweise ein Werk von Goethe, nehmen wir einmal an Die Leiden des jungen Werther, aufzuführen, hat ein bestimmter Leser je nach seiner Erfahrung unterschiedliche Instrumente zur Verfügung. So wird ein glücklicher Ehemann das Buch anders lesen als ein unglücklich Verliebter. Wer noch nie geliebt hat, dem werden die ersten Geigen fehlen; er wird das Buch langweilig finden. Das Verhältnis zwischen Partitur und Orchester ist das einer wechselseitigen Abhängigkeit. Es sind immer nur ganz bestimmte Aufführungsarten möglich. Die Partitur stellt eine begrenzte Menge an Stimmen und Noten zur Verfügung, der Leser ein begrenztes Orchester. Beide müssen eine ausreichend große Schnittmenge aufweisen. Diese fehlt zum Beispiel, wenn ich einem zwölfjährigen Mädchen Kants Kritik der reinen Vernunft zum Lesen gebe. Der Leser kann sein Orchester erweitern, indem er "lernt", etwa Sekundärliteratur liest, also neue oder verbesserte Instrumente anschafft und damit seine Aufführungspraxis der vom Autor vorgesehenen annähert. Er kann allerdings auch vom Autor wegführenden Einflüssen unterliegen, kann wie im Regietheater gegen den Autortext inszenieren, kann die Partitur, zum Beispiel geleitet von Gegenwartsinteressen und sie bedienender Sekundärliteratur (etwa feministischer Richtung), auch autorfern instrumentieren, kann die ihm fehlende Panflöte durch die Trompete ersetzen, kann Piano-Passagen fortissimo spielen und so Nebenmotive zur Hauptsache machen. Auch bei Thomas Mann geschieht das nicht selten. "Bleibt der Erde treu", las Thomas Mann in Nietzsches Also sprach Zarathustra, als er gerade eine Rede an die Wiener Arbeiter schrieb. Obgleich der Zarathustra sozusagen für Posaune geschrieben ist, gab Thomas Mann die Stimme (das Zitat) ab an die Schalmeien der Arbeiterbewegung, an die Nietzsche mit Sicherheit nicht gedacht hat.

Aus der Sicht der wechselseitigen Abhängigkeit von Partitur und Orchester relativiert sich das Destruktive der dekonstruktivistischen Hermeneutik. Es relativiert sich weiter, wenn man feststellt, daß die hier skizzierte Orchester- oder Lochkartenhermeneutik im Grunde genommen eine sehr alte Sache ist. Sie entspricht nämlich genau dem ehrwürdigen Verfahren der Typologie. Typologisches Verstehen bedeutet, für ein Interpretandum eine Präfiguration zu finden, ein typologisches Modell, in das die Erscheinung eingeordnet werden kann. Jahrhundertelang war das Magazin solcher Modelle die Bibel. Verstehen heißt, sein Ich auf die biblischen Vorbilder zu beziehen: Bin ich in einer bestimmten Situation Kain oder Abel, der Pharisäer oder der Zöllner, Judas oder Jesus, der verlorene Sohn oder der barmherzige Samariter? Man hat "verstanden", wenn man den biblischen Prototypus für das Interpretandum gefunden hat. Die biblische Lochkarte hat durchgelassen, was sie zu deuten vermag. Das Instrument hat die Stimme gefunden, die es aufzuführen hat. Noch Nietzsche spekuliert auf die biblische Typologie, wenn er seine Autobiographie Ecce Homo nennt und damit auf die Szene anspielt, als Pilatus den gegeißelten und dornengekrönten Jesus dem Volk vorstellt. Nietzsche will damit als ein anderer Christus identifiziert werden.

Im Fall Thomas Mann funktioniert das ganz ähnlich, nur ist das Verstehensraster nicht mehr oder nur noch am Rande die Bibel, sondern jenes aus allerlei Quellen zusammengebogene System von Geist und Leben, Künstlertum und Bürgertum, Ästhetik und Ethik, asketischer Homoerotik und gewollter Ehepflicht, dunkeläugiger Todesverbundenheit und blauäugiger Lebensbürgerlichkeit etc. Es bietet die Proto-Typen an, auf welche die Erscheinungen des eigenen Lebens bezogen werden. Das wichtigste Basisraster ist der "Ur-Kram", wie Tochter Erika das nannte, die Idee der Heimsuchung, die Angstlust Friedemanns vor dem Zusammenbruch seiner bürgerlichen Identität, die sich wiederholt in Aschenbachs, Castorps, Mut-em-enets, Adrian Leverkühns oder Rosalie von Tümmlers Angst vor der (oder Lust auf die) Wiederkehr des Verdrängten. Das dichterische Werk Thomas Manns besteht im Kern aus lauter Heimsuchungsgeschichten. Auch die zeitgeschichtlichen Herausforderungen werden auf dieses Paradigma bezogen. 1914 und 1933 erscheinen als solche Heimsuchungen, als Einbrüche einer trunkenen Lust in eine mühsam gewahrte bürgerliche Ordnung. Der Unterschied ist nur, daß Thomas Mann 1914 die Wiederkehr des Verdrängten beglückt bejaht, während er in ihr 1933 den Untergang der bürgerlichen Vernunft erkennt.

Erst nach 1945 erlischt die Kraft dieses Paradigmas. Im kalten Krieg saß Thomas Mann zwischen allen Stühlen, auch zwischen denen seiner erpobten Antithesenwelt von Geist und Leben, Künstler und Bürger etc. Nachkriegsdeutschland wollte sich den Liebhabereien seines Geistes nicht mehr fügen. Zur frühen Bundesrepublik fand er so wenig eine innere Beziehung wie zur frühen DDR - trotz der Weimar-Besuche von 1949 und 1955.

Teil 2: Thomas Mann verstehen

Fragen wir nun nach den Orchestern, mit denen Thomas Mann im Deutschland der Nachkriegszeit instrumentiert wurde. Sie waren in den westlichen Besatzungszonen deutlich anders als in der sowjetischen Zone. Die SBZ und die spätere DDR hatten eine sozialistische und antifaschistische Ideologie aus dem Geist des Exils errichtet. Thomas Mann paßte da exakt hinein, bot problemlos Bestätigungspotential: als Exilant, als Kritiker des Antikommunismus, als Antifaschist. Er galt als "progressiv", obgleich zur Aufrechterhaltung dieser Lesart die Verfallsthematik etwa von Buddenbrooks zur "Suche nach dem Bürger" (Georg Lukács) umgebogen werden mußte und die Betrachtungen eines Unpolitischen unterdrückt werden mußten. Auch das dichterische Werk wurde mit der "progressiven" Brille gelesen.

Hinter dieser offiziellen Fassade mochten sich freilich noch andere Lektüren verbergen. Kurz vorher war Thomas Mann ja aus denselben Kreisen "Geist vom Geiste der Henker Deutschlands" bescheinigt worden, in einem Aufsatz, der Die Dekadenz Thomas Manns betitelt war. Der solchermaßen urteilende Kommunismus verstand sich selbst offensichtlich als vital und brandmarkte die aus seiner Sicht müde Zurückgebliebenen als dekadent. Über den eigenen Anteil an der Dekadenz durfte nicht nachgedacht werden, öffentlich jedenfalls nicht. Privat mag es auch damals ganz andere Lektüren gegeben haben, solche, die sich auf Neurasthenie und Überreflexivität, Homoerotik und versagte Liebe verstanden. Im privaten Raum hat Thomas Manns Werk jenseits der offiziellen Doktrinen eine unkontrollierbare Spielwiese der Freiheit angeboten, die auch subversive Lektüren erlaubte.

In den Westzonen lagen die offiziellen Interessen umgekehrt. Thomas Mann paßte nicht in den mehrheitlichen Erwartungshorizont. Kulturell zur Herrschaft gekommen war nicht das Exil, sondern die mit opportunistischen ehemaligen Nazis durchmischte ehemalige innere Emigration. Diese suchte Bestätigung für ihr Drinnengebliebensein und konnte sie bei Thomas Mann nicht finden. Die aggressive Scham der Deutschen über ihre unweigerliche Mittäterschaft wollte verstanden und gebilligt werden, fand aber bei Thomas Mann nur scharfe Ablehnung. Eine Signalwirkung hatte hier Thomas Manns Streit mit der inneren Emigration 1945/46, als man sich gegenseitig vorwarf, es sich bequem gemacht zu haben. Dem Exilanten wurde die moralisch bessere Position abgesprochen: von den Logen- und Parterreplätzen des Auslands die deutsche Katastrophe betrachtet zu haben, war das höhnische Licht, in das man ihn stellte. Er fühlte sich nicht willkommen und wollte nicht nach Deutschland zurück. Seine politischen Äußerungen verlangten gebieterisch Schuldanerkenntnis und verweigerten dezidiert jene Bestätigung, die im Erwartungshorizont der geschundenen Deutschen die erste Geige spielen wollte. Seinen unbestreitbaren Haß auf das faschistische und das nach 1945 faschistoid gebliebene Deutschland mußten allein die Westzonen auf sich beziehen, während die Ostzone sich als Staat fühlen durfte, der die Umkehr geleistet und den Faschismus überwunden hatte. Im Westen aber galt Thomas Mann noch zwanzig Jahre nach dem Krieg weiten Kreisen als Vaterlandsverräter. Viele hielten ihn für einen Juden, viele für einen blutlosen Asphaltliteraten. Der nationalsozialistische Vernichtungsfeldzug gegen ihn war äußerst erfolgreich gewesen, zumal er auf älteren Urteilen über den kalten, lieblosen Macher aufbauen konnte.

Aber auch jenseits der politischen Querelen war das Zeitklima nicht günstig. Die diensttuenden nachnationalsozialistischen Weltanschauungen waren der Existentialismus und das Christentum. Beide wollten vom Thema Dekadenz nichts wissen und verdrängten es erhobenen oder gesenkten Hauptes. Der Existentialismus verlangte Entscheidung, Thomas Mann aber bot Ironie. Das Christentum verlangte Bekenntnis, Thomas Mann aber bot Zweifel.

Die Thomas Mann-Forschung der Nachkriegszeit setzt deshalb nicht in der Bundesrepublik ein, sondern in den ehemaligen Exilländern und in der DDR. Die Autoren der ersten wichtigen Bücher kommen aus der Schweiz (Ferdinand Lion, Robert Faesi), aus Schweden (Käte Hamburger, Walter A. Berendsohn), aus England (Jonas Lesser, Peter de Mendelssohn), aus USA (Erich Heller, Henry Hatfield), aus Frankreich (Pierre-Paul Sagave, Louis Leibrich), aus Ungarn (Georg Lukács) und aus der DDR (Hans Mayer, Georg Wenzel, Eberhard Hilscher). Viele von ihnen sind jüdischer Herkunft. Die ersten großen Sammelbände erscheinen in den USA (The Stature of Thomas Mann, New York 1947), in Frankreich (Hommage de la France à Thomas Mann à l'occasion de son 80ème anniversaire, Paris 1955) und in der DDR (Vollendung und Größe Thomas Manns, Halle 1962). Dieser beeindruckenden Zahl von Büchern hat die Bundesrepublik bis in die Mitte der Sechziger Jahre wenig entgegenzusetzen.

Die spät einsetzende westdeutsche Thomas Mann-Forschung sucht einen Weg vorbei an den politischen Traumata und findet ihn in einer entpolitisierten Hochschätzung der Kunstarbeit. Nun rückt die formale Meisterschaft in die Mitte der Aufmerksamkeit. Die Erzählhaltung, die Leitmotivstruktur, die Ironie, die Künstlerproblematik, die Selbstthematisierung des Erzählens, die Quellen und Einflüsse werden untersucht. Thomas Mann erscheint als der Meister des "intellektualen Romans" (Helmut Koopmann, 1962) und einer inhaltlich nicht festlegbaren "dynamischen Metaphysik" (Herbert Lehnert, 1965). Alles inhaltliche Interpretieren und Diskutieren ist mehr oder weniger tabu. Links oder rechts, das ist nicht mehr die Frage. Naphta und Settembrini erscheinen als uferlose Schwätzer, beide ohne Unterschied.

Das war die Zeit, als ich anfing, Thomas Mann zu lesen, mit 21. Ich war Theologiestudent und las als erstes, es muß im Jahr 1964 gewesen sein, den Doktor Faustus. Mir gefielen die formalistischen Schulen nicht. Ich suchte nach Inhalten und existentiellen Antworten und fand sie zuerst in der Auseinandersetzung von Adrian Leverkühn und Serenus Zeitblom um Fragen des Glaubens, um Demut und Hochmut, um Sünde und Gnade. Das Motiv des Lachens erinnerte mich an einen Freund, der ähnlich lachte. Ich erlebte mich theologisch als Leverkühn, psychologisch aber eher als Zeitblom. Erst in zweiter Linie ergriffen mich die Deutschland- und die Künstlerproblematik. Der Roman hatte eine große Orientierungskraft für mich. Er schuf am Beispiel der Musikgeschichte eine gewisse Ordnung im Reich des Geistes und der Kultur. Den Zauberberg las ich im Sommer 1965. Im Vorfeld der Studentenbewegung verstand ich Settembrini damals ungebrochen positiv: als Mann der Vernunft und des Fortschritts, progressiv im Gegensatz zum reaktionären Naphta. Das war eine Lesart, die der vom Autor gesetzten Matrix zwar nicht gerecht wird, die aber zeigt, wie sich das Rezeptionsinteresse seinen Weg bahnt. Was der progressiven Deutung widersprach, nahm ich damals nicht zur Kenntnis oder marginalisierte es zumindest.

Das generelle Rezeptionsklima änderte sich deutlich mit der Studentenbewegung, die eine Repolitisierung des Thomas Mann-Verständnisses brachte, aber zunächst auf eine paradoxe Weise. Zwar versuchten ihn einige ins Boot zu ziehen. Walter Jens präsentierte ihn zum Beispiel als "Radikaldemokrat bürgerlicher Provenienz". Mehrheitlich aber wurde er gewogen und zu leicht befunden. Während die Re-Integration des Exils vielen lange marginalisierten Autoren endlich Aufwind gegeben hatte (Lion Feuchtwanger, Klaus Mann, Heinrich Mann, Anna Seghers, Arnold Zweig, Bertolt Brecht), galt Thomas Mann nun als zu bürgerlich, nicht links genug. "Zu spät und zu wenig" betitelte Walter Boehlich einen Aufsatz über Thomas Mann und die Politik, der allerlei Versäumnisse aufrechnet, obgleich weit und breit kein Autor zu sehen ist, der früher und häufiger gegen den Faschismus Stellung genommen hätte. Der Erwartungshorizont der Studentenbewegung gab den Blick nur frei auf Autoren mit antibürgerlichem Habitus. Man lobte den Schiebermützenträger Bertolt Brecht auf Kosten des Krawattenträgers Thomas Manns, ohne sich zu fragen, ob Mütze und Krawatte nicht in beiden Fällen nur eine Maske waren. Zum Zeitpunkt seines 100. Geburtstags 1975 war Thomas Manns Ansehen in der Bundesrepublik deshalb auf einem Tiefpunkt, trotz aller Feiern und trotz einer Schar tapferer Anhänger. Man erwartete nichts mehr von diesem Autor des untergegangenen Bürgertums. Zahlreiche Autoren erklärten in schrillem Ton, er sei ihnen gleichgültig. Polemiken erschienen wie die von Hanjo Kesting und von Martin Walser, in denen Thomas Mann eitle Unverbindlichkeit, Entscheidungsflucht und Unbeträchtlichkeit bescheinigt werden.

In der DDR hingegen blieb alles bei der offiziellen Linie der Erbepflege. Was sich unter der Decke der offiziellen Klassikerverehrung tat, ist freilich schwer zu sagen. Daß der Dogmatismus der sozialistischen Orthodoxie schwächer wurde, ist spätestens daran zu erkennen, daß 1983 die bisher aus den Ost-Werkausgaben verbannten Betrachtungen eines Unpolitischen auch in der DDR erscheinen konnten.

Zu einer Befreiung aus den politischen Paradigmata von progressiv und konservativ, revolutionär oder bürgerlich etc. kommt es erst im Laufe der Achtziger und Neunziger Jahre. Ihr Ausgangspunkt ist klar auszumachen: die Eröffnung der Tagebücher im Jahr 1975 und ihre Publikation seit 1977 (bis 1995). Seitdem gehen allmählich andere Rezeptionsinteressen in Führung, setzen sich andere Lochkarten durch, wird das Werk Thomas Manns zunehmend von anderen Orchestern instrumentiert. Jetzt erst kommt das ursprünglichste und angemessenste Paradigma Thomas Manns zu breiterer Wirkung: die Analyse der Dekadenz. Eine Ästhetisierung, Psychologisierung, Erotisierung der Rezeption setzt ein. Die Aktualität Thomas Manns heute beruht auf der Aktualität der Dekadenz. Deutschland weist heute die Charakteristika, welche in der Zeit um 1900 nur eine schmale Oberschicht kennzeichneten, in breitester Ausprägung auf: Vitalitätseinbuße, Kindermangel, Zukunftslosigkeit, Überreflexivität, Orientierungsverlust, Luxus, Vergnügungssucht, Verwöhntheit, Narzißmus, Identitätsschwäche, Rollenspiel, Entpolitisierung, Sexualisierung, Psychologisierung, Nervosität, Hypochondrie, Alkoholismus, Historismus, Stilpluralismus, Zitat-Manierismus, Dezisionismus etc. Ein lüsternes Interesse an der Person verdrängt das Pathos der antifaschistischen Humanität. Der Voyeurismus ist salonfähig geworden. Endlich nimmt man Thomas Mann die Abgründe ab, die seine Gepflegtheit immer geschickt zugedeckt hatte. Man blickt mit ihm in diese Abgründe und schaudert mit ihm zurück. Während die homosexuelle Kundschaft, die Thomas Mann immer schon hatte, ihn nun offen zu den ihren zählt (und fast ein wenig bedauert, daß ihm so wenig körperliche Praxis nachzuweisen ist), sieht die heterosexuelle Leserschaft die Askese, zu der er sich in gleichgeschlechtlicher Hinsicht genötigt sah, als nachvollziehbaren, ja respektablen Ausweg, und versteht endlich die kühne Brücke, die sein Werk über diese schaudernden Tiefen spannt.

Rezeptionsforschung pflegt sich hauptsächlich auf Rezensionen und andere schriftliche Zeugnisse zu stützen. Die veröffentlichte Rezeption bietet aber immer nur eine Teilansicht. Um zu erforschen, was wirklich in einem bestimmten Leser geschieht, fehlt es bisher an einem überzeugenden und gut handhabbaren Instrumentarium. Trotzdem möchte ich im folgenden noch einige Beobachtungen mitteilen, im Bewußtsein, daß ihre empirische Basis schmal ist, ja, oft hauptsächlich aus Selbstbeobachtung und Gesprächen mit Freunden besteht.

Das naive, nicht professionelle Lesen sucht in erster Linie nach Identifikation. Es fragt: Wo ist von mir die Rede? Es fühlt sich verstanden, wenn Erlebnisse, die es selber auch hatte, treffsicher formuliert werden. Wer selbst ein Vorzugskind und spätgeborener Liebling war und seine Geschwister auszustechen wußte, wird Joseph und seine Brüder gut verstehen können. Wer selber in präödipaler Fixierung noch nicht zu fremden Sexualpartnern gefunden hat, der wird mit Lust den Geschwisterinzest in Wälsungenblut und im Erwählten konsumieren. Die Lochkarte der Erwartungen läßt in erster Linie diejenigen Szenen und Formulierungen passieren, die zur Selbstdeutung geeignet sind. Thomas Mann ist aktuell, sofern sein Werk Identifikationsmöglichkeiten anbietet. Jeder Thomas Mann-Leser erinnert sich an Leseerlebnisse des Wiedererkennens: Genau so ist es, solche Menschen kenne auch ich, das habe auch ich so erlebt. Das können im einfachsten Fall Identifikationen mit Figuren in bestimmten Situationen sein. Einige Beispiele sollen das verdeutlichen. Wir beginnen mit einem relativ banalen Detail: dem Wecker, der Hanno Buddenbrook weckt am Morgen, als er in die Schule muß:

Das Werk der Weckuhr schnappte ein und rasselte pflichttreu und grausam. Es war ein heiseres und geborstenes Geräusch, ein Klappern mehr als ein Klingeln, denn sie war altgedient und abgenutzt; aber es dauerte lange, hoffnungslos lange, denn sie war gründlich aufgezogen.

Hanno bleibt liegen, entschläft aufs neue, erwacht eine Stunde später mit Schrecken, jeder kennt das, jeder fühlt mit ihm, fühlt sich verstanden. Obgleich im Zeitalter der Digitaluhren und Radiowecker dem mechanischen Weckgeräusch bereits Nostalgiewerte zuwachsen. Meine Generation kennt Hannos Wecker noch aus der eigenen Jugend, die heute aufwachsende wird sie bald gar nicht mehr kennen. Das Motiv wird infolgedessen jeweils anders instrumentiert. Aus einem realistischen Detail bei Thomas Mann wird eine nostalgische Erinnerung oder ein nur noch historisches Anno dazumal bei den jungen Lesern von heute. Trotzdem teilt sich die Bedeutung des Motivs, Hannos Abscheu vor Leben und Wirklichkeit, noch problemlos mit.

Identifikatorisch wird in der Regel auch die Szene gelesen, als Tonio Kröger, an den Rand des Festes verdrängt, weil er, von der Liebe zu Ingeborg Holm abgelenkt, ,Moulinet des dames' getanzt hatte und peinlich aufgefallen war, ins Sinnieren gerät. Er spricht sicher bis heute vielen Menschen aus dem Herzen, denen es an einer erfüllten Liebe fehlt:

"Sie müßte kommen! Sie müßte bemerken, daß er fort war, müßte fühlen, wie es um ihn stand, müßte ihm heimlich folgen, wenn auch nur aus Mitleid, ihm ihre Hand auf die Schulter legen und sagen: Komm herein zu uns, sei froh, ich liebe dich. Und er horchte hinter sich und wartete in unvernünftiger Spannung, daß sie kommen möge. Aber sie kam keines Weges. Dergleichen geschah nicht auf Erden."

Die Sehnsucht nach sexueller Berührung ist ein zeitloser Faktor und speist zahlreiche Identifikationen. Jeder Zauberberg-Leser erinnert sich an die Szene, als Hans Castorp, während Krokowski über die Zweideutigkeiten der Liebe spricht, intensiv den Nacken der vor ihm sitzenden Clawdia Chauchat betrachtet, sowie ihre Hand, jene ungepflegte Schulmädchenhand mit der zerbissenen Haut neben den Nägeln, und ihren Arm, als sie hinter sich greift, um ihr Haar zu stützen. "Der Arm war schöner, dieser weich hinter den Kopf gebogene Arm, der kaum bekleidet war, denn der Stoff der Ärmel war dünner als der der Bluse, - die leichteste Gaze, so daß der Arm nur eine gewisse duftige Verklärung dadurch erfuhr und ganz ohne Umhüllung wahrscheinlich weniger anmutig gewesen wäre. Er war zugleich zart und voll - und kühl, aller Mutmaßung nach."

Nicht immer müssen Identifikationen dem Ich schmeicheln. Man kann sich auch wiedererkennen in Fehlern, die man machte, in Peinlichkeiten, die man nicht zu vermeiden wußte, und in Demütigungen, die einem widerfahren sind. Erfahrungen der Entwürdigung durchziehen das dichterische Werk. Tonio Kröger tanzt Moulinet des dames, Prinz Klaus Heinrich findet sich am Ende des Bürgerballs mit dem Bowlendeckel auf dem Kopf wieder, Hans Castorp zeichnet Schweinchen, Gustav von Aschenbach läßt sich schminken, Mut-em-enet treibt mit Tabubu Liebeszauber, Rosalie von Tümmler blickt selbstvergessen auf Ken Keatons bloße Arme: Daß ihre Liebe zu in den Augen der Gesellschaft lächerlichen Handlungen führen kann, deren sie sich später schämen, das erleben viele Menschen bis heute. Die Literatur gibt Erlebnissen, Gedanken und Gefühlen Raum, für die es sonst keinen Ort, keine Freiheit und keine Gesprächspartner gibt. Sie ähnelt in dieser Hinsicht dem Gebet.

Denn Identifikation heißt nicht Eigenlob, sondern verstanden werden, heißt, sein Sosein im Guten und im Bösen, im Konstruktiven und im Destruktiven, im Konformen und im Absonderlichen ausformuliert zu bekommen auf eine stimmige Weise. Das Erleben selbst in seinem realen Augenblick ist wortlos. Was aber dumpf und unartikuliert erlebt wird, findet in der Literatur Worte, wird ausdrückbar und handhabbar, wird in Kontexte eingebracht, auf Muster bezogen, gedeutet, somit verstehbar, vielleicht veränderbar, jedenfalls besser zu ertragen. In Christian Buddenbrook erkennen sich die Identitätsschwachen von heute wieder, deren Willenskraft nicht ausreicht, ihr Leben zu bestehen, und die ausweichen in Hypochondrie und Theatralik. In Thomas Buddenbrook finden sich die Leistungsethiker, die sich verstanden und geachtet fühlen von Thomas Mann in ihrer einsamen und hoffnungslosen Anstrengung; sie kennen die Stunden, in denen die Masken abfallen. Im geschminkten Aschenbach erkennen sich im Zeitalter des Face lifting alle wieder, die unter ihrem Alter leiden. In Zeitbloms Onkelhaftigkeit erkennen sich alle wieder, die ungeschickt mit Kindern sind. In Adrian Leverkühn finden sich diejenigen, die gern klug, kühl und genial genug wären, um ihrem Unglück Größe zu geben, und die, die gern pathoskritisch über das Vortreffliche lachen. Das alles gilt keineswegs nur für männliche Leser, sondern funktioniert gleichermaßen bei Frauen.

Das sind noch relativ einfache Fälle, doch läßt sich die Identifikation als grundlegender Rezeptionsmodus auch an komplexeren Strukturen und komplizierteren Vermittlungen nachweisen. Man sollte das ganze Werk nach unserer Gegenwart rezeptionsfreundlichen Szenen und Konstellationen absuchen und dann die mit ihnen korrelierenden spezifischen individuellen Erwartungshorizonte ermitteln. Man bräuchte dazu eine ausreichende Anzahl qualitativer Interviews - wobei das "qualitativ" zu unterstreichen ist, denn quantitativ repräsentative Fragebogen mit oberflächlichen Strichlisten werden diejenige Eindringlichkeit nicht erreichen können, um die es dabei geht. Lieber zwanzig mehrstündige Interviews mit gut ausgewählten Partnern als zweitausend Fragebogen. (Hiermit wäre ein lohnendes Forschungsprojekt skizziert, das allerdings nichts für Anfänger ist.)

Die Identifikation mit einzelnen Szenen und Figuren ist das einfachste Muster. Einen Reflexionsgrad höher steht die Identifikation mit Erzählerfiguren und Erzählhaltungen, und noch darüber die mit Thomas Mann selbst. In einem auktorial erzählten Roman wie dem Zauberberg, dem Joseph oder dem Erwählten erfolgt die Leserlenkung über den Erzähler. Der Leser bekommt in diesem Fall die Geschichte fertig geordnet und gedeutet geliefert. Er muß sich nicht mehr selbst der Erfahrung aussetzen. Sein Urteil wird gelenkt; er muß nicht mehr selber denken, sondern teilt die Empörung des Erzählers zum Beispiel über den Mord an Hanegiff im Erwählten ("Nach meiner Meinung war es das Schlimmste, was diese Nacht geschah"). Während der Held nackt in einem schmutzigen Brunnen sitzt (wie Joseph im Abschnitt Joseph schreit aus der Grube), sitzt der Leser keineswegs mit ihm im Unrat, sondern bequem beim Erzähler auf dem Sofa. Dessen Haltung und Einsicht ist das Medium der Identifikation. Die Kumpanei zwischen Erzähler und Leser ist manchmal ganz offenkundig. "Um uns Alten einmal noch das Gefühl zu wecken" sinniert der Erzähler des Joseph-Romans, "oder doch etwas, was mild und verhüllt an das Gefühl unserer Jugend erinnert, muß schon was Besonderes kommen". Eine solche Stelle beglückt alle älteren Herren, deren Karte hier gelocht ist, während junge Leserinnen von ihr kein Identifikationsangebot erhalten.

Eine neutrale Erzählhaltung, wie sie in Buddenbrooks vorliegt, will eigentlich nicht, daß der Leser eine Figurenperspektive einnimmt und sich nur eine einzige Identifikationsfigur wählt - sei das Jean senior oder Jean junior, Thomas oder Christian, Tony oder Hanno, die ja jeweils nur Partialperspektiven abdecken. Thomas Manns Ideal war das eines Flaubertschen Ästhetizismus: jede Figur recht haben zu lassen, so lange sie dasteht und redet, jede aus sich heraus so notwendig zu zeichnen, daß sie überzeugt, und sei es der Teufel selbst. Die autorgemäße Lesart ist in diesem Fall die Perspektive des Künstlers als eines Gottes, der sich keiner einzelnen Figur ausliefert, sondern das ganze Welttheater von oben sieht.

Damit ist man bei der Identifikation mit dem Autor selbst. Dessen Haltung zu Welt und Leben überhaupt bietet auch dem Leser ein typologisches Modell, dem er folgen kann, wenn er sich Thomas Mann verwandt fühlt. Es unterstützt eine demaskierende Lebensbeobachterrolle, die dem sensationslüsternen Ego schmeichelt, weil es alles zu durchschauen gewürdigt wird, über vieles lachen darf und klug über allem zu stehen wähnt. Es teilt aber auch eine brauchbare Haltung mit, die alles versteht, wenn auch mit melancholischem Lächeln, aber nicht alles verzeiht. Thomas Mann-Geprägte vermögen durchaus aus dem Beobachterstatus herauszutreten und zu Handlungen zu finden. Die Souveränität des Erzählers, der in der erzählten Welt schaltet und waltet, wie es ihm beliebt, und der Welt eine Ordnung gibt, gewährt nicht nur Trost im Chaos der Wirklichkeit, sondern gelegentlich auch Orientierung und Anhaltspunkt für humanes Handeln. So wie Thomas Mann mit seiner gedichteten Welt möchte der Leser mit seiner realen Welt umgehen können: wissend, was gut ist und was böse. Wer sich dieser Erzählhaltung anvertraut, dem teilt sich etwas Vorbildhaftes mit, er findet etwas, das ihm das Leben zu bestehen hilft, was er nachmachen kann, eine Haltung auch der Selbstironie und der Selbstkritik, ein Modell, nach dem man sich stilisieren kann, und wenn es nur, um Marcel Reich-Ranicki zu zitieren, um "Thomas Manns makellose Gepflegtheit, seine elegante Umständlichkeit und Überlegenheit, seinen zärtlichen Spott und sein vielsagendes Augenzwinkern" geht. Die berühmte Ironie Thomas Manns ist keineswegs nur Entscheidungsflucht, sondern bedeutet vor allem Freiheit; Entdogmatisierung und Entpathetisierung bewirken eine skeptische Souveränität. Damit läßt sich leben.

Man muß also nicht notwendig ein homosexueller Wagnerianer sein, um sich mit Thomas Manns Welthaltung identifizieren zu können. Das Werk enthält genug Unbestimmtheitsstellen, die Raum lassen für Erfahrungen, die eine ausreichende Schnittmenge zwischen Autor und Leser haben. Was Thomas Mann angesichts der gleichgeschlechtlichen Liebe erlebte, ist in einem großen Maß übertragbar ins heterosexuelle Milieu, denn dort wird die Erfahrung der verbotenen, der zerstörerischen, der unerreichbaren oder der gesellschaftlich unmöglichen Liebe auch gemacht. Thomas Mann selbst hat ja seine Erfahrung immer wieder heterosexuell umformuliert. Wie zum Beispiel Mut-em-enet weiterlebte mit ihrer unrealisierten Passion, das zeigt Thomas Mann, anwendbar für viele, die Ähnliches erlebt haben, im Abschnitt Der versunkene Schatz.

Natürlich ist Thomas Mann heute kein Massenautor. Das Werk sucht sich seine Leser relativ exklusiv. Es sind die vom Leben ein wenig Ausgeschlossenen, die Wehmütigen und Verwundeten, die nicht mehr an das große Glück glauben, die Tonio Krögers und Magdalena Vermehrens. Sie suchen nach den imaginären Freuden der Kunst und der Erkenntnis, weil das Glück dort ungetrübter ist als im wirklichen Leben, denn in der Kunst wird das Leben angeschaut frei von Qualen; "das Rad des Ixion steht still" (Arthur Schopenhauer). Ihr Pessimismus findet dort Bestätigung, aber auch ihre Tapferkeit. Sie identifizieren sich mit den Leistungsethikern und den Sebastianstypen, welche die Zähne zusammenbeißen, mit Thomas Buddenbrook und Gustav von Aschenbach. Zu ihren Vorbildern zählt Joseph, der vom Hochmut des Künstlers zum Dienst am Leben findet, und Gregorius mit der festhaltenden Hand. Zu ihren Vorbildern zählt vor allem Thomas Mann selbst, der gegen die Prädispositionen seiner Herkunft ein tapferes Leben führte und es alles in allem gut bestand. Mach's einer nach und breche sich nicht den Hals. Fast alle Argumente der Kritik sind an Thomas Mann inzwischen abgeprallt. Er hat sich moralisch, politisch und ästhetisch behaupten können. Nicht einmal mehr als eiskalten Faiseur mag man denjenigen bezeichnen, der seinem Werk so viel von seiner Person mitgegeben hat, was wir erst seit den Tagebüchern wissen. Unangefochtener als je ist seine Position als größter deutscher Autor des 20. Jahrhunderts. Im Wettkampf mit Musil und Döblin, die um 1975 noch gleichauf lagen, ist er inzwischen um mehrere Runden voraus, aber auch Brecht und Kafka hat er derzeit um mehr als eine Nasenlänge geschlagen. Nach den Aktienkursen der Gegenwart firmiert er auf einer Rangebene mit Shakespeare, Lessing, Goethe oder Schiller.

Damit können wir zurückkehren auf die Ebene der veröffentlichten Rezeption. Thomas Mann wird heute wieder als praeceptor Germaniae gehandelt, der Bundespräsident kommt zu seinem 50. Todestag, seine politischen Ansichten werden bisweilen zitiert, sein antifaschistisches Engagement gilt als vorbildlich, aber auch der Skeptizismus des unpolitischen Betrachters findet in einer politikverdrossenen Zeit neue Resonanz. Doch das allein würde nicht reichen, sein Werk am Leben zu erhalten. Es sind nicht die Meinungen, die wirken, es ist nicht der Ergebnissatz des Zauberberg, weshalb man diesen Roman liest. Pathetische Resultate stoßen heute eher auf Skepsis. Waren sie einst viel zitiert, jene Sätze von der Liebe und der Güte, um deretwillen man dem Tode keine Herrschaft einräumen solle, oder jene Sätze von der Kunst mit der Menschheit auf du und du aus dem Faustus, so liest man heute nicht mehr, um solche abgezogenen Weisheiten zu gewinnen. Der Autor ist nicht mehr in erster Linie als Lehrer gefragt. Stattdessen steht das "Bilde, Künstler, rede nicht" wieder in hoher Geltung, wie überhaupt die Ästhetik des deutschen Idealismus, in deren Tradition Thomas Mann zweifellos steht, sich als widerstandsfähig erwiesen hat gegen die diversen Avantgardismen des 20. Jahrhunderts.

Damit hängt auch zusammen, daß die dekonstruktivistische Vernichtung der Kategorien "Autor" und "Werk" doch etwas stark Übertriebenes hat. "Von mir, von mir" ist die Rede, versicherte Thomas Mann in Bilse und ich. Er glaubte, er müsse nur von sich reden, um auch der Zeit und der Allgemeinheit die Zunge zu lösen. Aber war das so falsch? Es ist nicht so weit vom Autor zum Leser, wie die dekonstruktivistische Theorie behauptet. Viele Leser haben ausreichend viele Instrumente, um die Partituren Thomas Manns einigermaßen richtig aufzuführen. "Einigermaßen richtig": Es gibt eine Kernzone, in der viele Leser Erfahrungen mitbringen, die denen Thomas Manns ausreichend ähnlich sind - dazu gehört etwa der Bereich der versagten Liebe. Es gibt andere Zonen, in denen die Leser zwar andere Erfahrungen mitbringen, aber Erfahrungen, die eine sinnvolle neue Einheit ergeben. Dazu gehören die vielen Details, die von geschichtlicher Veränderung betroffen wurden, sei es Hannos Wecker oder das Gaslicht in seiner Schule, das damals ultramodern war, heute aber archaisch wirkt. Sie fügen den Romanen neue Reize hinzu, Nostalgiereize zum Beispiel. Der Leser führt dann die Cellostimme mit der Viola da Gamba auf, was zwar nicht originalgetreu, aber trotzdem schön ist. Solche Neuinstrumentierungen, die sich zwangsläufig ergeben (eine werkgetreue Interpretation ist prinzipiell unmöglich, da wir nun einmal ein anderes Orchester haben als im Jahre 1900), können sich durchaus im Fahrwasser einer legitimen und nicht einfach willkürlichen Auslegungsgeschichte bewegen. Ich helfe mir dabei mit dem Begriff der Tradition, die zwischen Werk und Auslegung vermittelt. Wir stehen ja niemals in einer direkten Beziehung zu einem Werk Thomas Manns, wir stehen vielmehr immer in einer Auslegungstradition, diese und unser Platz in ihr, nicht das Werk allein, ist uns verbindlich vorgegeben. Eine Tradition ist wie ein Fluß. Das Werk im Autorhorizont ist vergleichbar mit der Quelle. Die ersten Leser sind schon Zuflüsse, sie fügen hinzu. Die Auslegungsgeschichte ist einem meistens breiter werdenden, manchmal aber auch von Entnahme-, Verdunstungs- und Versickerungsverlusten betroffenen Strom zu vergleichen, der irgendwann allerlei mit sich führt, aber dennoch seine Identität bewahrt. Im Rhein bei Mainz ist echt nicht nur das Ursprungswasser vom Gotthard, sondern alles, was da fließt, ist unverwechselbar der Rhein. Das Werk und seine Rezeptionen: das ist kein Gegensatz, sondern eine Einheit.

Ausblick

Wie lange wird die Aktualität anhalten? Ein Werk lebt, so lange es Deutungsinteressen befriedigt, Erwartungen erfüllt - seien diese dem Autorhorizont adäquat oder nicht. Auch Fehldeutungen und Mißverständnisse können es am Leben halten. Doch wird ein Werk in der Regel und auf die Dauer krasse Fehlinterpretationen wieder ausscheiden. Die Aktualität Thomas Manns ist vorerst ungebrochen. Die Zeiten, in denen sie erlöschen wird, werde ich nicht mehr erleben und verzichte darum darauf, sie auszumalen.