Wo die Menschen wachsen

Eine Geschichtensammlung beantwortet schwere Fragen - leider meist religiös

Von Maik SöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik Söhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben wir für ein Glück gehabt. Denn stimmte es wirklich, was der bayrische Chronist Aventin über uns Deutsche dachte, dann müssten wir täglich gegossen werden. Er leitete "den Namen der Germanen von germinare, auswachsen, ab, weil die Deuschen auf Bäumen gewachsen sein sollen". Die Sachsen trifft es noch schlimmer, denn ihr Ursprung wird in einem Felsen vermutet. Am Ärgsten aber kommen die Westfalen weg. Erst Jesus Christus machte Menschen aus jenen Einwohnern ihres Landstrichs, die bis dahin "auf allen Vieren liefen und grunzten".

225 solcher Geschichten sind versammelt in dem jüngst in Eichborns "Anderer Bibliothek" erschienenen Buch "Warum der Schnee weiß ist - Märchenhafte Welterklärungen". Klassische Fragen wie "Warum die Hunde den Katzen spinnefeind sind" oder zur "Herkunft der Kinder" werden ebenso beantwortet wie abseitige über die Entstehung der Schildkröte oder zur Erschaffung der Geige. Es gibt komische und tragische Erklärungen, extrem simple und enorm komplizierte, solche, die sich auf regionale Besonderheiten beziehen und so manche, die sich den großen Menschheitsthemen stellen. Einige Fragen wie "Warum der Mond Flecken hat" oder "Warum die Haare dort wachsen, wo sie es tun" scheinen so schwierig zu beantworten zu sein, dass es gleich mehrere Erklärungen dafür gibt.

All diese Geschichten wurden Natursagen, Märchen, Schöpfungserzählungen, Schwänken und Witzen entnommen und gehören damit zum Bereich der Ätiologien. Gemeinsam ist ihnen, wie es die Herausgeber Reinhard Kaiser und Elena Balsamo in ihrem kenntnisreichen Nachwort formulieren, "dass sie eine Antwort auf die Frage 'Warum' oder 'Woher' geben." Wichtig ist aber auch der Hinweis der Herausgeber auf die Verbindung zur Volkspoesie, denn beim Lesen der Geschichten fallen einem rasch deren meist einfache Akteure wie Bauern, Handwerker und Hausfrauen auf. Außerdem mangelt es in den Erklärungen nicht an Klischees und Vorurteilen.

Das Ergebnis kann reaktionär ausfallen, wie es insbesondere in jenen Erklärungen zu sehen ist, die von Frauen und Juden handeln. Meistens aber überwiegt ein eher harmlos-schelmischer Ton, mit dem die eine Landsmannschaft die Eigenarten der anderen erörtert: Esten lästern über Finnen, Flamen über Franzosen, Deutsche über Österreicher, diese über Kroaten und so weiter, bis man wieder - mit umgekehrten Vorzeichen - nach Nordeuropa zurückkehrt. Vertreten sind Ätiologien aus halb Europa, wobei sich die Schweden, Deutschen, Österreicher und Bulgaren als besonders fantasievoll erweisen, während aus Frankreich und England nur Weniges und aus Spanien und Portugal gar nichts beigesteuert wurde.

Obwohl die Herausgeber ihre Auswahl triftig zu begründen wissen, liegt in der Begrenzung auf Teile Europas denn auch der Schwachpunkt des Buchs. Die überwiegend christlichen Begründungen, häufig mit den antagonistischen Hauptfiguren Gott und Teufel, nerven schon früh. Nur ein Drittel der Welterklärungen kommt ohne einen religiösen Bezug aus. Das würde in einer um andere Kontinente erweiterten Auswahl vermutlich nicht besser werden, da jede Weltreligion die nationalen und regionalen Volkspoesien maßgeblich geprägt hat, doch wäre das Personal der Geschichten dann zumindest nicht ganz so eintönig.

"Warum der Schnee weiß ist" ist trotz der christlichen Dominanz ein unterhaltsames Buch geworden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass zahlreiche Erzähler den Welterklärungen von Papst und Kirche eine eigene undogmatische, bisweilen sogar ketzerische Note geben. Denn in vielen der Geschichten ist Gott alles andere als perfekt und der Teufel erscheint häufig als ein gar nicht so übler Geselle, dessen Gesellschaft samt Branntwein und Tabak der von so manchem Fürsten und Pfaffen vorzuziehen ist.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist bereits in der ,taz' erschienen. Wir danken dem Autor für die Druckgenehmigung

Titelbild

Reinhard Kaiser / Elena Balzamo: Warum der Schnee weiß ist. Märchenhafte Welterklärungen.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2005.
301 Seiten,
ISBN-10: 3821845589

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