Die Rechnung ging nicht auf

Bombastisches und Belangloses zum Kriminalfilm-Genre

Von Fehmi AkalinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fehmi Akalin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man kann Spielfilme unter verschiedenen Aspekten analysieren: als Ausdruck des Unbewussten ihrer Rezipienten oder Produzenten, als Reflexion oder Kritik der herrschenden Ideologie ihres Entstehungszeitpunkts usw. Psychoanalytisch, ideologie- oder diskurskritisch lassen sich aber nicht nur Spielfilme, nicht nur Kunstwerke analysieren, sondern alles Mögliche: alltägliche Äußerungen, politische, wissenschaftliche oder journalistische Texte. Genreanalysen haben gegenüber solchen reduktionistischen Methoden den Vorzug, dass sie Genrefilme in ihrer Eigenlogik untersuchen: als Variationen oder Innovationen der je spezifischen ästhetischen Schemata.

(Film-)Genres sind überdies sozial bewährte Kommunikationskonventionen, sie fungieren als Orientierungsrahmen für Rezipienten und Produzenten: Der Rezipient erwartet, dass der Autor weiß, was er von einem bestimmten Genre erwartet und vice versa. Mit anderen Worten: Genres sind Kristallisationspunkte gegenseitiger Erwartungen. Die genretheoretische Filmanalyse hat somit eine genuin soziologische Komponente. "Kino als Unterhaltungsmedium versorgt das Publikum mit festen Formaten: den Genres. Beim Genrekino wissen die Zuschauer, woran sie sind", informiert uns der Klappentext jedes Bändchens aus der von Thomas Koebner herausgegebenen sympathisch-unprätentiösen Reclam-Reihe, die sich der wichtigsten "Filmgenres" annimmt. Und doch sagt der Hinweis damit nur die halbe Wahrheit - er unterschlägt nicht nur die Produzentenseite, sondern auch die Dynamik von Genres ("feste Formate").

Letzterem Manko versucht immerhin der chronologische Aufbau des Hauptteils eines jeden Bands entgegenzuwirken. Auch das Buch über den "Kriminalfilm", herausgegeben und betreut von dem renommierten Medienwissenschaftler Knut Hickethier, der das Genre seit nunmehr über 30 Jahren publizistisch begleitet, folgt dem Schema bislang vorliegender Publikationen: Den einzelnen Besprechungen besonders prägender und einflussreicher Filme von den Anfängen bis heute wird eine Einleitung vorangestellt, in der das jeweilige Genre auf seine charakteristischen Merkmale, dominanten Erzählmuster, wichtigsten Subformen und kultursoziologischen Implikationen hin skizziert wird.

Diesmal ist der Einleitungstext vergleichsweise lang ausgefallen. Auf über 30 Seiten nimmt sich Hickethier der theoretischen Fundierung des Krimi-Genres an - und verbaut sich leider gleich im ersten Absatz mit einer problematischen These den angemessenen Zugang zu seinem Untersuchungsgegenstand: Der Krimi wird mit der bombastischen Funktion der "Sicherung des Status quo der Gesellschaft" befrachtet - darunter scheint es nicht zu gehen! Die "Balance zwischen der Verletzung der Normen und ihrer Wiederherstellung" spreche einerseits "die heimlichen Bedürfnisse der Zuschauer und Leser nach einem Ausbruch aus der Ordnung" an, stelle andererseits doch immer wieder aufs Neue klar, "dass sich der Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen nicht lohnt".

Mit seiner Rede von der "systemstabilisierende[n] Funktion" des Kriminalfilms folgt Hickethier traditionellen Vorstellungen einer normativ zu integrierenden Gesellschaft. Dies ist deshalb so problematisch, weil nicht einmal das moderne Rechtssystem dieser viel zu voraussetzungsvollen Aufgabe nachkommen könnte, geschweige denn Unterhaltung - warum sollte sie auch? Der Funktionsbegriff scheint hier zudem nicht angebracht. Die Phänomene, die Hickethier unter dem Funktionsbegriff subsumiert, bekommt man analytisch besser in den Griff, wenn man sie, wie in der Kultursoziologie üblich, als unintendierte Nebenfolgen behandelt, als Effekte auf den semantischen Haushalt einer Gesellschaft. Und hier gibt es in der Tat vielfältigere diskursanalytische Anknüpfungspunkte, die Hickethier auch erwähnt. Dass der Krimi Auswirkungen auf kulturelle Konzepte von "Kriminalität" oder "Gerechtigkeit" hat, dürfte denn auch mehr Zustimmung finden als die Behauptung, genau darin liege die Funktion des Genres. Auf solche semantischen Einflüsse hinzuweisen ist jedenfalls allemal plausibler als sozialpathologische Spekulationen über "kathartisch[e] Effekt[e]" des Krimis anzustellen.

Außerdem ist das "Grundproblem der Verletzung der Normen und ihrer Wiederherstellung" mitnichten eine Spezifik des Krimis, auch das Western-Genre beispielsweise lässt sich mühelos auf dieses einfache Schema reduzieren. Die strukturalistische Erzählforschung erblickt darin sogar das dominante Grundmuster des Narrativen überhaupt.

Man könnte solche gesellschaftspolitischen Theorieimporte als typische Legitimationsrhetorik abtun, mit der die vergleichsweise noch relativ junge Genretheorie versucht, ihrem Untersuchungsobjekt so etwas wie gesellschaftliche Relevanz angedeihen zu lassen, und sich dem Hauptteil des Bandes zuwenden: den einzelnen Filmbesprechungen. Die Qualität dieser Beiträge wird freilich davon abhängen, inwiefern es ihnen gelingt, Beliebiges in Spezifisches zu transformieren. Es wird, mit anderen Worten, darauf ankommen, welchen Erkenntnisgewinn die Betrachtung eines Einzelwerks vor dem Hintergrund seiner Genrezugehörigkeit liefert.

An der Auswahl der Filme gibt es nichts auszusetzen. 70 Filme von 1922 bis 2002 werden chronologisch vorgestellt (mit Ausnahme der Besprechung von "Fargo"). Den Schwerpunkt bilden die 1960er und 1990er mit je 13 Filmen. Es dominieren erwartungsgemäß die amerikanischen Exemplare der Gattung, aber auch der deutsche Krimi ist mit 13 Filmen - drei davon sind Fernsehproduktionen - gut vertreten. Zwar ist die Zahl der besprochenen Fernsehkrimis angesichts der "fast unüberschaubaren Menge" eingestandenermaßen nicht gerade repräsentativ, aber erfreulich ist die Überwindung der üblichen Reduktion des Trägermediums Film auf das Verbreitungsmedium Kino allemal. In den Beiträgen werden zudem alle in der Einleitung systematisch hervorgehobenen Subgenres vom Detektiv-, Polizei- und Gangsterfilm über den Gerichts- und Gefängnisfilm bis zum Thriller, Spionagefilm und film noir abgedeckt. Am ehesten noch vermisst man in dieser Liste vielleicht den parodistischen Kriminalfilm à la "Eine Leiche zum Dessert" oder "Die nackte Kanone", lassen sich doch an diesen selbstreflexiven Filmen die Grundmuster des parodierten Genres am besten herausarbeiten.

Die einzelnen Filmbesprechungen sind von unterschiedlicher Qualität. Am gelungensten sind jene Beiträge, die konsequent der Programmatik der Reihe folgen und die Filme in den Genrekontext einordnen. Exemplarisch genannt seien: die Analyse von "Der kleine Caesar", die nicht nur prägnant die Stilelemente des Gangsterfilms benennt, sondern auch auf die genreprägende Konvertierung zensurrechtlicher Restriktionen hinweist; die Analyse von "Der Tod löscht alle Spuren", wenn sie auf den genre-twist vom Polit- zum Psychothriller im Verlauf der Erzählung abhebt. Originell ist auch die Lesart von "Minority Report" als Inversion klassischer Kriminalfilme.

Den meisten Beiträgen gelingt es jedoch nicht, die genrespezifische Perspektive einzuhalten. Manche begnügen sich damit, größtenteils die Handlung eines Filmes nachzuerzählen (so ist etwa die Inhaltswiedergabe von "Das Schweigen der Lämmer" auf vier Seiten länger als so mancher Beitrag). Viele Autoren schaffen es einfach nicht, die Spreu vom Weizen zu trennen. So wird man zwar über viele interessante Details informiert: dass man bereits 1922 die symbiotischen Vorteile des Medienverbunds von Buch und Kinofilm erkannte, oder dass in der Synchron-Fassung von "Asphaltdschungel" die deutsch klingenden Namen der Gangsterfiguren geändert wurden. Aber man erfährt auch Prätentiöses (Cocteaus "These über die Verwandtschaft von Tod und Kino"), reichlich Naives ("Der deutsche Titel Die Anwältin deutet bereits an, dass die Stellung der Frau im Film und in der Gesellschaft ins Zentrum rückt") und jede Menge Belangloses: dass etwa der Autor Dashiell Hammett "alkoholkrank" war, dass Humphrey Bogart und Lauren Bacall "sich bei den Dreharbeiten zu Haben und Nichthaben kennen und lieben gelernt hatten", dass der Produzent Mark Hellinger wohl "mit Mafiabossen befreundet" war usw.

Schön und gut - oder auch nicht -, nur: Dies alles hat nicht viel mit der Genrezugehörigkeit der besprochenen Filme zu tun. Die meisten Beiträge hätte man denn auch ohne konzeptionelle Änderungen mühelos in der ebenfalls von Thomas Koebner herausgegebenen, dem genretheoretischen Zugriff jedoch nicht verpflichteten Reclam-Reihe "Filmklassiker" unterbringen können. Man hätte aber auch wahllos bereits vorhandene Filmrezensionen zusammenstellen können: den Hinweis "Wer den Film nicht kennt, sollte jetzt nicht weiterlesen", erwartet man z. B. eher in einer tagesaktuellen Besprechung als in einer die Vorteile der zeitlichen Distanz nutzenden Analyse - von einer "neuen" Sicht auf bedeutsame Exemplare des Genres, wie dies der Band-Herausgeber in Aussicht stellt, kann bei vielen Beiträgen jedenfalls keine Rede sein.

Ein paar Flüchtigkeitsfehler haben sich in die Endfassung auch eingeschlichen: Manche Angaben sind veraltet: Pierce Brosnan hat inzwischen mehr als zwei Bond-Filme gemacht; andere Angaben wiederum setzen falsche Akzente: In welchem Zeitraum die besprochene Serie "Stahlnetz" im TV erstausgestrahlt wurde, erfährt man z. B. nicht, wohl aber, wann die Vorgänger- und Nachklapp-Serie jeweils gezeigt wurde; manches wiederum ist schlicht falsch: so wird etwa die Hauptfigur in "Asphaltdschungel" vom Gangster zum Polizisten befördert.

Das Gesamturteil über den Band "Kriminalfilm" muss leider zwiespältig ausfallen: Zu vielen Beiträgen, so lesenswert sie im Einzelnen auch sind, fehlt die Konzentration auf das Wesentliche. Erkenntnisgewinne, die der genretheoretische Zugang verspricht, werden leichtfertig verspielt. Das ultimative Buch über das Kriminalfilm-Genre ist dies jedenfalls nicht.

Titelbild

Knut Hickethier (Hg.): Filmgenres: Kriminalfilm. Unter Mitwirkung von Katja Schumann.
Reclam Verlag, Stuttgart 2005.
370 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3150184088

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