Schrilltöne der Dummheit

Hans H. Henschen hat Gustave Flauberts "Wörterbuch der gemeinen Phrasen" neu übersetzt

Von Thomas BlumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Blum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sich den Anschein zu geben, man sei gebildet und geistreich, kann einfach sein. Vor allem dann, wenn man zeitig gelernt hat, so daherzuschwatzen wie alle anderen auch, in deren Kreisen man verkehrt. Noch heute funktioniert das, denn der eigenen Dummheit wird man nicht gewahr, solange sie sich in der Dummheit der anderen spiegelt.

Zu genüge bewiesen hat das der französische Romancier Gustave Flaubert, der 1880 im Alter von nur 59 Jahren verstarb, mit seinem "Wörterbuch der gemeinen Phrasen", das der Flaubert-Enthusiast Hans-Horst Henschen nun neu übersetzt, mit einem umfangreichen und im besten Sinne pedantischen Anmerkungsapparat und einem übergescheiten Nachwort versehen hat.

Noch in seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman "Bouvard und Pecuchet", der zur selben Zeit entstand, führt er uns zwei bürgerliche Individuen vor als entfremdete, einfältige, unablässig scheiternde Laurel- und Hardy-Figuren, die all ihr Wissen aus Zeitungen und Handbüchern beziehen und deren Streben nach Glück und Erkenntnis gründlich lächerlich gemacht wird.

Doch der Schriftsteller hat damit nicht nur den althergebrachten, bürgerlichen Roman erledigt und sich in seiner Prosa als kalter, sentimentalitätsfeindlicher Gesellschaftsanalytiker erwiesen. Flaubert war auch, spätestens seit der Abfassung der "Madame Bovary", ein von seinem Stilwillen und seinem Perfektionismus Getriebener, ein Besessener, der bisweilen tagelang an ein paar Sätzen laborierte, um danach doch nicht zufrieden zu sein. Die Lüge, der Gefühlskitsch, das leere Geschwätz und auch der romantisierende Tonfall, der den Großteil der literarischen Produktion seiner Zeit bestimmte, waren ihm verhasst wie nichts sonst. "Er liebte nicht sein Jahrhundert, nicht die Mitlebenden", doch "hatte sich wohl durchgerungen bis zur Wirklichkeit, aber unter Opfern, aber mit Murren", schrieb 1915 Heinrich Mann über ihn.

Auch von Flaubert selbst sind zahlreiche einschlägige Äußerungen überliefert wie die folgende: "Ich empfinde Hass auf die Dummheit meiner Epoche, ganze Fluten von Hass, die mich ersticken. Scheiße steigt mir hoch [...] bis in den Mund. Aber ich will sie bei mir behalten, sie eindicken und daraus einen Brei machen, mit dem ich das 19. Jahrhundert beschmieren werde." Den Brei hat er tatsächlich hergestellt und ordentlich auf zwei nachgelassene Werke verteilt, auf die "Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit" und das "Wörterbuch der gemeinen Phrasen".

Für sein "Wörterbuch", eine Art Konversationslexikon für die bürgerlichen Stände, mit welchem Flaubert eben jenen ihre eigene Gedankenlosigkeit und Lächerlichkeit vorzuführen gedachte, sammelte und notierte er viele Jahre lang die Phrasen und tausendfach wiedergegebenen Geschwätzversatzstücke und Klischees, die das Bürgertum seiner Zeit verwendete, um sich wichtig zu machen und nicht selbst denken zu müssen.

Und wahrlich, das in dem Kompendium aufgelistete Viertelwissen, angereichert mit allerlei Banalitäten, Binsenweisheiten, Floskeln, zeitgenössischen Vorurteilen, Euphemismen und gestelztem Gerede, ist eine reichhaltige Sammlung geworden. Was ist ein heiliges Amt? "Alle Berufe". Die "schönsten Körperteile der Frau" beschreibt man "poetisch" am besten mit dem Begriff Alabaster. Unter Arm findet man folgende Eintragung: "Um Frankreich zu regieren, bedarf es eines eisernen Armes." Unter dem Stichwort Blondinen liest man: "Heißblütiger als Brünette", doch prompt stößt man nur einige Zeilen weiter unten auf das Stichwort Brünette. Und da steht freilich: "Heißblütiger als Blondinen (siehe auch Blondinen)". Ein Bart ist stets ein "Zeichen von Manneskraft", Bewegung "hält gesund", ein Begeisterungssturm ist immer "unbeschreiblich", ein Dickicht immer "undurchdringlich", Muskeln immer "stählern" und Eifersucht immer "rasend". So geht das immerzu weiter.

Die Auflistung der lexikalischen Stichworte, von "Abendgesellschaft" ("Die auf dem Lande sind immer sittsam") bis "Zypresse" ("Wächst nur auf Friedhöfen"), zeigt, wie es im Nachwort so treffend heißt, "die Durchdringung der Welt mit sprachlichen Fertigteilen".

Flaubert schrieb schon 1852 in einem Brief an seine Freundin Louise Colet: "Wenn man es gelesen hätte, dürfte man überhaupt nichts mehr zu sagen wagen, vor lauter Angst, zwangsläufig eine der Phrasen nachzuplappern, die sich darin finden".

Als Sprachskeptiker hat er wahrgenommen, dass mit dem allgegenwärtigen, schablonisierten, auch kunstgewerblichen 'Blabla' (Schwalbe - "Sie niemals anders nennen als 'Frühlingsbotin'") ein unumkehrbarer Prozess in Gang gesetzt wird, sobald das erstarrte Gerede erst einmal in den Zeitungen, Salons und Diskussionszirkeln virulent ist und sich in der Kultur festgefressen hat: Der Denk- und Wortabfall, den der Bourgeois aufklaubt, schlimmstenfalls für den eigenen Gedanken hält und mit dem er sich spreizt, häuft sich, vermehrt sich gar täglich. Bis alles davon durchdrungen ist.

Gustave Flaubert kann als manischer Kritiker der Gesellschaft seines Zeitalters gelten und hat "seiner Welt wie kein anderer die Schrilltöne ihrer Dummheit abgelauscht", schreibt Henschen. Lebte Flaubert heute, so hätte er wohl nicht die geringsten Schwierigkeiten, eine Fortsetzung seines Wörterbuchs zu verfassen. Denn nicht anders als vor 120 Jahren "bestreicht der Bürger alles, was er berührt, mit dem Schleim seiner Dummheit", kommentiert Henschen.

Schließlich redet auch heute jeder, sei es in den Medien oder in der Reklame ("Geschmack pur"), sei es im armseligen Palaver des so genannten Smalltalks, ohne dass er sich der schal und faulig gewordenen Phrase im geringsten bewusst wäre, von einer "Popikone", wenn er etwa von Madonna oder Michael Jackson spricht, von einem "geöffneten Zeitfenster", wenn er eine ablaufende Frist meint, oder von einem "Meilenstein", wenn er auf ein vermeintlich besonders eindrucksvolles Kulturerzeugnis zu verweisen beabsichtigt. Die Liste der verdinglichten, "gebrauchten" Begriffe und des redundanten und vom Sprecher irgendwo aufgelesenen und bewusstlos wiedergekäuten Geschwafels ließe sich täglich fortsetzen, ganz im Sinne ihres Erfinders.

Anmerkung der Redaktion: Der Text erschien bereits in einer gekürzten Fassung in der "Berliner Zeitung". Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Gustave Flaubert: Wörterbuch der gemeinen Phrasen.
Übersetzt aus dem Französischen von Hans H. Henschen.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
216 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3821807415

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