Schuriks Frauen

Ljudmila Ulitzkaja erkundet Moskauer Wohnungen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ljudmila Ulitzkaja (geboren 1943 im Ural) hat eine Vorliebe für Clangeschichten und Beziehungsgeflechte. Im breit angelegten Roman "Medea und ihre Kinder" hat sie 1996 das wunderbare Porträt einer alten Frau gezeichnet, welche selbst nie Kinder gebären konnte. Dennoch war Medea Mendez, eine der letzten auf der Krim noch übrig gebliebenen Griechinnen, das heimliche Zentrum und die matriarchale Hauptgestalt einer weitläufigen, über die ganze Sowjetunion verstreuten Sippe. Deren Angehörige trafen jeweils im Sommer für eine kurze Zeit auf der Krim zusammen: Ulitzkaja hat hier den sowjetischen Vielvölkerstaat als eine Art Großfamilie dargestellt.

In ihrem neusten Roman wendet sich Ulitzkaja abermals den zwischenmenschlichen Beziehungen zu. Schurik (Alexander) wächst zwischen seiner Mutter und Großmutter auf und gelangt zur Überzeugung, "das Gute sei etwas Weibliches". Später tritt er ins Leben hinaus, um Frauen auf manche Art und Weise zu befriedigen oder zufrieden zu stellen. Er ergibt sich ihnen - und gibt sich ihnen hin -, vornehmlich aus Mitleid, wie er selbst glaubt. Bald besteht seine hauptsächliche Beschäftigung darin, zwischen verschiedenen Stadtteilen Moskaus hin und her zu eilen, um für die eine die Einkäufe zu erledigen, für die andere die Katze zu füttern. Indessen reflektiert er sein eigenes Leben kaum, er lebt keinen langfristigen Plänen nach, hat kaum je persönliche oder berufliche Ambitionen. Seinen Frauen gegenüber empfindet er vorwiegend ein Gefühl der Schuld, die er unter anderem durch nächtliche Besuche glaubt abtragen zu können.

Hinter jeder der Frauen steckt wiederum eine eigene Lebensgeschichte, welche Ulitzkaja meisterhaft aufzufächern, mitunter auch nur anzuspielen versteht. Auch diesen Roman bevölkert eine recht repräsentative Auswahl von Bürgern und eben vor allem Bürgerinnen der Sowjetunion: Schurik wendet sich ebenso einer kasachischen Chemiestudentin zu wie auch einer litauischen Prostituierten. Die Autorin schildert Schuriks Beziehungsknäuel mit einem gehörigen Schuss Humor und Ironie; dabei kommen ihre Figuren, der Mann wie die Frauen, aber immer wieder auch schlecht weg. Dass man sein eigenes Personal verlacht, ist eine Erzählhaltung, die gegenwärtig auch bei anderen russischen Autorinnen zu beobachten ist. Ulitzkaja geht dabei noch gnädig vor und ist um einiges milder gestimmt als beispielsweise Tatjana Tolstaja in ihren Erzählungen. Ljudmila Ulitzkaja scheint sich aber in diejenige Linie der zeitgenössischen russischen Prosa von Frauen einzuschreiben, in der die Autorin ihrem eigenen weiblichen Personal die Solidarität entweder ganz verweigert oder sie ihr zumindest nicht bedingungslos gewährt.

Vielleicht rührt Ulitzkajas Interesse für Beziehungen jeder Art auch daher, dass sie ausgebildete Biologin ist und in den 60er Jahren für kurze Zeit als Genetikerin gearbeitet hat. Aber Familie gründet sich nicht bloß auf die Verwandtschaft der Gene oder die Einheit des Blutes, wie Ulitzjaka schon bei Medea wusste. Dies gilt umso mehr für das gesellschaftliche Netz, welches die Autorin nun um Schurik herum knüpft.

Schuriks "Frauengeschichten" bloß als einen sexuellen Reigen zu sehen, greift aber ebenfalls zu kurz. Nicht immer sind seine Beziehungen zu den Frauen amouröser Art. Ulitzkaja entfaltet vielmehr das Panorama einer Moskauer Gesellschaft während der Jahre des wirtschaftlichen Stillstands unter Breschnew. Vielleicht ist ihr überhaupt mehr um solche Szenen zu tun, als um ein Psychogramm Schuriks oder um das Ausloten der tieferen Beweggründe für seine Abenteuer. Der Alltag der Beteiligten rückt ins Zentrum, und auch das Politische wirft mitunter einen Schatten auf das Leben der Figuren, selbst wenn politische Ereignisse hier jeweils am Horizont nur kurz aufleuchten. Die Revolution oder die politisierten Olympischen Spiele von 1980 in Moskau hinterlassen in den Familiengeschichten der geschilderten Figuren durchaus ihre Spuren. Ulitzkajas Botschaft lautet möglicherweise: Die Sowjetunion bedeutete für die meisten Menschen zunächst einmal ganz einfach Alltag. Einkaufen (wenn auch unter Schwierigkeiten), zur Arbeit gehen, mit dem Hund spazieren, sich auf der Datscha erholen, Beziehungen knüpfen und wieder lösen: All dies bestimmte das Leben der gewöhnlichen Menschen in seiner täglichen Ausgestaltung vielleicht weit mehr als die Ideologie.

Am Schluss verlaufen Ulitzkajas Roman und Schuriks "Geschichten" im Sande. Schurik findet nicht etwa die Frau fürs Leben, und er entscheidet sich auch nicht für eine der bisherigen. Das Netz der Beziehungen klärt sich nicht auf. Dies mag den Leser enttäuschen. Vielleicht ist das aber noch einmal als ein Fingerzeig zu werten, dass es der Autorin tatsächlich in erster Linie um ein Moskauer Gesellschaftsbild ging, um Einsichtnahme in die Wohnungen, die Lebensverhältnisse, ja Schicksale der gewöhnlichen Menschen. Dann wäre der blasse Schurik letztlich auch ein "Fremdenführer" gewesen, den sich die Autorin für ihren Gang durch Moskauer Wohnungen erschaffen hat.

Die deutsche Übersetzung darf hier lobend erwähnt werden, sie trifft Ulitzkajas Ton gut und liest sich flüssig. Allerdings offenbaren sich in einer Hinsicht die Tücken der Transkription aus dem kyrillischen Alphabet. Viele ausländische, nicht deutsche Eigennamen werden nämlich falsch geschrieben: Vilnius heißt auf polnisch richtig Wilno, nicht Vilno; der Staatsgründer Indonesiens schreibt sich auf Deutsch wie auf Indonesisch Sukarno, nicht Sucarno. Details? Mag sein. Aber die französische Doktorandin Joel, mit der sich Schurik in Moskau eine Zeitlang amüsiert, ist doch wohl gewiss eine Frau und heißt demzufolge richtig Joëlle.


Titelbild

Ljudmila Ulitzkaja: Ergebenst, euer Schurik. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna- Maria Braungardt.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
496 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446206655

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