Süße Mädels, Femme fatales und Ehefrauen

Stephanie Catani über Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nie werde sie "den Anblick der dort auf einem Diwan ruhenden Gestalt vergessen, nie den ergreifenden Blick der großen dunklen Augen unter den buschigen Brauen". Den Mann, der "so Großes, Herzliches, Unvergleichbares" geschaffen habe, "in diesem Zustand geistiger Umnachtung zu wissen", sei ein "erschütternde[s] Erlebnis" gewesen, das noch "tagelang" in ihr "[nachge]zittert" habe. Mit diesen pathetischen Worten schilderte die radikale Frauenrechtlerin und Verfechterin einer "Neuen Ethik" der freien Liebe, Helene Stöcker, ihren Besuch an der Krankenstatt ihres bewunderten Geistesheroen Nietzsche. Zwar fanden durchaus nicht alle Frauenrechtlerinnen des Fin des Siècle an dem Philosophen mit dem Hammer Gefallen. Doch galt er nicht nur Stöcker als eine Quelle der Inspiration, die für das feministische Anliegen sprudeln sollte. Selbst die geistige Mutter der ersten Frauenbewegung, Hedwig Dohm, ließ Nietzsches Schriften in ihren literarischen Werken aufleben. Nur die Vertreterinnen des gemäßigten Flügels zeigten sich meist einigermaßen immun gegen die eloquenten Verführungskünste des eingefleischten Misogyn. Keine der nach Emanzipation strebenden Frauen innerhalb und außerhalb der Frauenbewegung übersteigerte ihre Bewunderung für Nietzsche jedoch derart wie Stöcker.

Nun kritisiert Stephanie Catani die "zahlreichen um Relativierung seiner frauenfeindlichen Aussagen bemühten Interpretationsansätze". Zweifellos zu Recht. Doch dass es gerade die Relativierungen von Nietzsches Misogynität seien, die deren "Evidenz" bezeugten, ist ein schwaches Indiz. Überzeugender sind da schon die von Catani zitierten "Mythen und aggressiven Stereotypen" Nietzsches, nach denen man in seinen Schriften wahrlich nicht lange suchen muss. Seine Werke, mutmaßt Catani, seien bei "zahlreichen Frauen" um 1900 so beliebt gewesen, weil sie deren Umdeutung der "'geistlosen, irrationalen' Frau zur idealen Projektionsfläche dionysischer Kräfteentfaltung" als Stellungnahme für "frei gelebte weibliche Sinnlichkeit" lasen. Anders als seine "Mitstreiter" Richard von Krafft-Ebing und Paul Julius Möbius hat Nietzsche Catani zufolge die Sexualität der Frau zwar nicht tabuisiert, sondern verteidigt. Doch handele es sich bei seiner "Idealisierung der lustbetonten weiblichen Sinnlichkeit" nicht etwa um ein "Plädoyer für die sexuelle Befreiung der Frau", sondern vielmehr um einen "Aufruf zur prinzipiellen Lebensbejahung". Seine frauenfeindlichen Ausfälle ließen sich mit dem Hinweis auf die Ausführungen zur weiblichen Sexualität jedenfalls nicht relativieren.

Catani entwickelt ihre ebenso vehemente wie zutreffende Kritik an der euphorischen Nietzsche-Rezeption durch Frauenrechtlerinnen der Ersten Feministischen Welle - heute im Übrigen fortgeführt von der Vorsitzenden der Helene-Stöcker-Gesellschaft Annegret Stopczyk-Pfundstein (vgl. literaturkritik.de 5/2004) - in einer Untersuchung zur Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925, die den nicht unpassenden Titel "Das fiktive Geschlecht" trägt.

Ihr kulturanthropologischer Ansatz differenziert zwischen dem anthropologischen und dem literarischen Diskurs des 'Weiblichen'. Den Unterschied zwischen beiden aufzuheben, werde den spezifischen Möglichkeiten literarischer Texte nicht gerecht. Darum ließen sich "die zeitgenössischen wissenschaftlichen Versuche, das Wesen der Frau zu erklären, nicht mit ihrer literarischen Inszenierung vergleiche[n]". Eine unscharfe Formulierung, mit der offenbar nur gemeint ist, dass die Grenze zwischen beiden nicht verwischt werden darf. Denn an anderer Stelle bezeichnet Catani es gerade als den "Anspruch dieser Arbeit, die Analyse literarischer Konstruktionen des Weiblichen mit den Resultaten der zeitgenössischen anthropologischen Forschung zu vergleichen". Doch auch dies fasst sie an wiederum anderer Stelle noch einmal präziser, indem sie hervorhebt, dass es ihr darum geht, "Interdependenzen zwischen wissenschaftlichen Diagnosen und literarischen Inszenierung" in den Blick zu nehmen, wobei nicht "das Weibliche selbst", sondern dessen Inszenierungen den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bilden.

Nach einem eher propädeutischen Abschnitt über den anthropologischen Diskurs um 1900 beleuchtet Catani "kulturelle Frauentypen" der Zeit und deren literarische Inszenierungen. Im dritten und umfangreichsten Teil - er umfasst etwa zwei Drittel des Buches - unternimmt die Autorin "exemplarische Analysen" einiger "ausgesuchter Werke".

Catani betont zu Recht, dass von einer "einheitlichen Darstellung" der Frau in der Literatur der Jahrhundertwende nicht die Rede sein kann, und unterscheidet zwischen acht "Frauentypen": dem 'dämonischen Weib', der Femme fatale, der 'Dirne', der Kind-Frau, der Femme fragile, dem 'Süßen Mädel', der Ehefrau und der Mutter. Doch nicht immer sind ihre Zuordnungen konsistent. So nennt sie im Abschnitt über die Kind-Frau Schnitzlers 'süßes Mädel' als Beispiel für die Femme enfant, andererseits rubriziert sie das 'süße Mädel' nicht nur gesondert, sondern zählt es zusammen mit der Prostituierten, der Femme fragil und der Femme fatale zu den "kulturelle[n] Archetypen".

Der Versuch, die Femme fatale als "explizit literarische[n] Frauentyp" zu behandeln, ist der Autorin zufolge insofern problematisch, als der literarische Diskurs damit für ein Weiblichkeits-Klischee verantwortlich gemacht werde, das er nicht allein geschaffen habe. Vielmehr bilde die Femme fatale das "Endprodukt" einer von Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst gemeinsam und epochenunabhängig unternommenen Inszenierung. Für die Untersuchung seien daher die Veränderungen von Interesse, die im Untersuchungszeitraum "eine spezifisch literarische Inszenierung der Femme fatale im Vergleich zu anderen ausmach[en]". Dass sie nicht nur Produkte literarischer Inszenierungen sind, dürfte allerdings in nicht geringerem Maße ebenso für andere der von Catani behandelten "Frauentypen" gelten. Auch an der Inszenierung etwa der Femme fragile waren neben der Literatur bildende Kunst und Wissenschaften beteiligt. Letztere beispielsweise mit ihren Versuchen, den Nachweis zu führen, dass das 'schwache' Geschlecht den Anforderungen von Studium und Wissenschaft nicht gewachsen sei. So erklärte etwa der Münchner Anatomieprofessor Theodor Bischoff in seiner Schrift "Das Studium und die Ausübung der Medicin durch die Frauen" (1872), das Studium dieser Fachrichtung sei eine "dem weiblichen Zartgefühl, der Weichheit ihres Charakters, der Empfindlichkeit der Sinnesorgane, der Lebhaftigkeit der Phantasie, dem Schamgefühl ganz und gar widerstrebende Beschäftigung".

Catanis Absicht, die (Untersuchung der) wissenschaftlichen und literarischen Diskurse strikt zu trennen, lässt sich sinnvollerweise also nicht nur im Fall der Femme fatale nicht ganz durchhalten. Und so gehört ihr Hinweis, dass die "grundsätzlich negative Stigmatisierung weiblicher Erotik" durch die zeitgenössischen Wissenschaften, namentlich durch die Anthropologie und "die damit verbundenen Versuche", "der sinnlichen Frau jegliche intellektuellen und rationalen Fähigkeiten abzusprechen", in der Literatur relativiert werden, zu den wertvollsten Ergebnissen der Arbeit. Zu ergänzen wäre allerdings, dass die anthropologischen Bestrebungen nicht nur die Intellektualität und Rationalität 'erotischer Frauen' negierten, sondern die des weiblichen Geschlechts überhaupt.

In den Einzelanalysen behandelt die Autorin vierzehn Werke von fünf Autoren, darunter Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind, Robert Musil und Franz Kafka, sowie zweier Autorinnen, Ricarda Huch und Franziska zu Reventlow. In einer der Untersuchungen, derjenigen des "Reigens" aus der Feder des "schriftstellernde[n] Arzt[es] Schnitzler", greift Catani noch einmal den Stereotyp des "süßen Mädels" auf. Sowohl bei ihm als auch bei der Schauspielerin, die Catani ebenso wie die Figur der "junge Frau" als "dämonische Frau" interpretiert, scheint sich die Autorin nicht recht entscheiden zu können, ob den Figuren ein Moment echter Emanzipation innewohnt, oder ob sie sich mit "Scheinemanzipation[en]" zufrieden geben. Letztlich tendiert die Autorin aber doch zu der Auffassung, dass das 'süße Mädel' sich resigniert an "männliches Wunschdenken" anpasst und die Schauspielerin "männlich besetzten [gemeint ist offenbar: von Männern festgelegten, R.L.] Regeln gehorcht".

Ausdrücklich behandelt Catani die Werke weiblicher Autoren getrennt von denjenigen ihrer männlichen Kollegen, um so die "geschlechtsspezifische[n] Unterschiede im Rahmen der literarischen Inszenierung von Weiblichkeit" besser hervorheben zu können.

Die "Inszenierungsprozesse" literarischer und wissenschaftlicher Texte, so lautet das Fazit der Autorin, beeinflussen einander zwar, doch "modellieren" sie das jeweils vom anderen übernommene Wissen. Als wesentlichen Unterschied hebt sie hervor, dass zeitgenössische Anthropologen fiktive Figuren ihren literarischen Kontexten "entreißen" und sie als Belege ihrer Thesen heranziehen, gerade so, als handele es sich um reale Menschen. Literarische Texte nehmen hingegen auf anthropologische Entwürfe - insbesondere der Geschlechterdifferenz - kritisch Bezug, indem sie diese übersteigern und deren Defizite ironisieren. Auf diese Differenz aufmerksam gemacht zu haben, ist nicht das geringste Verdienst der Arbeit.


Kein Bild

Stephanie Catani: Das fiktive Geschlecht. Weiblichkeit in anthropologischen Entwürfen und literarischen Texten zwischen 1885 und 1925.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
300 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3826030990

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch