"Das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut"

Dorothee Gelhard untersucht Spuren jüdischer Hermeneutik in der Literatur

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein später Midrasch zu Kohelet 5,2 formuliert das, was als Basis der gesamten rabbinischen Hermeneutik gelten kann: "Siehe es heißt: 'Ein Traum kommt mit einer Fülle von Bedeutung'. Daraus ergibt sich ein Schluß vom Leichteren auf das Schwerere: Der Inhalt eines Traums erhöht nicht und erniedrigt nicht und dennoch kann ein einziger Traum so viele Bedeutungen haben; um wie viel mehr gilt dies von den gewichtigeren Worten der Tora, daß ein Schriftvers viele Sinne ergibt" (Midrasch ha-Gadol Gen). Dass ein Bibeltext eine Vielzahl legitimer Bedeutungen haben kann, leitet sich direkt aus dem Verständnis der Schrift als einer einmaligen und vollständigen Mitteilung Gottes für alle Zeiten ab. Wenn der Text für alle Zeiten gültig sein soll, auf die Probleme jeder Zeit die ihr gemäßen Antworten bereithalten und diese auch noch in einer für die Zeit adäquaten Sprache ausdrücken soll, muss der Text auf Deutung hin extrem offen sein. Wie Arnold Goldberg betont, ist die Schrift "eine genau definierte Menge graphischer Zeichen. Das Artefakt 'Schrift' ist präzise festgelegt und kann keiner Veränderung unterliegen. Dieser bestimmten, endlichen Menge graphischer Zeichen entspricht eine noch offene Menge sprachlicher Zeichen. Die Menge der sprachlichen Zeichen nimmt in der Auslegung zu, weil immer mehr entdeckt wird, was alles sprachliches Zeichen ist".

Eine Fortführung und Radikalisierung jüdischer Hermeneutik begegnet einem auch im 20. Jahrhundert und dort vor allem bei Jacques Derrida. In seinem Essay "Edmond Jabès und die Frage nach dem Buch" (1964) widmet er sich den an den Talmud erinnernden Poesien, die der ägyptisch-jüdische Schriftsteller Jabès in seinem Werk "La livre des Questions" (1963-1965) in Form einer unsystematisch-narrativen Philosophie entfaltet hat. Imaginäre Rabbiner antworten dort auf Fragen nach dem Wort, nach der Freiheit, nach dem Tod und nach Gott, und Derrida fragt mit dem gleichen Gestus weiter, verknüpft seine Auslegung durch die (ungenannte, aber implizierte) hebräische Formel dabar acher ("andere Auslegung") katenenartig mit dem Jabès-Text. Derridas Text übernimmt die Form eines (talmudischen) Kommentars, einer weiterführenden Zuspitzung des in langen Passagen zitierten Jabès-Textes. Von besonderer Bedeutung ist Derridas Text nicht zuletzt deshalb, weil sich hier erstmalig der Gedanke von der Abwesenheit des Autors im Text und die fundamentale Unterscheidung zwischen Buch und Text finden.

Diese frühe Vorstellung eines Primats der Schrift vor jeder Form der Anwesenheit einer Identität findet ihren vielleicht treffendsten Ausdruck bereits in der literarischen Form des talmudischen Textes. In enger Verbindung dazu stehen Überlegungen zu einem Gott, der in jüdisch-kabbalistischer Tradition unabhängig vom Ort seiner transhistorischen Manifestation, von der Tora, nicht gedacht werden kann. Dieser Gedanke wird bei Derrida vor dem Hintergrund des heimatlos im Exil lebenden Juden bzw. Rabbiners entwickelt, wie er bei Jabès auftaucht. An diesen drei unterschiedlichen Zugängen - Primat der (kommentierenden) Schrift, dem in der Schrift sich gleichzeitig offenbarenden und verhüllenden Gott und dem exilierten Schriftkundigen - orientiert sich Derridas re-écriture der jüdischen Hermeneutik. Die Heiligkeit der Schrift gerät dabei zum Interpretament der "Bruchstücke der zerbrochenen Tafeln" eines unwiederbringlich verlorenen Ursprungs, zwischen denen nach Derrida "das Abenteuer des Textes als vogelfreies Unkraut" der Poesie anhebt und "das Recht zur Rede Wurzel fasst [...] weit von der 'Heimat der Juden' entfernt, die 'ein heiliger Text inmitten der Kommentare' ist".

Joachim Valentin hat darauf hingewiesen, dass hinter der von Derrida in diesem Zusammenhang verwendeten Denkfigur des 'texte général' "nicht die Vorstellung einer Welt als endloses Meer aus Texten [steht], sondern die nach dem linguistic turn konsequente und mit gewissen kabbalistischen Spekulationen kohärente Einsicht, dass jede Aussage sich nur wieder auf andere sprachliche Aussagen und nicht auf einen nichtsprachlich fassbaren Referenten außerhalb dieses Verweisungszusammenhangs beziehen kann".

Dorothee Gelhard greift in ihren "Studien zur jüdischen Hermeneutik in der Literatur" den poststrukturalistischen Begriff des Subtexts "als palimpsestische Textstruktur" auf, der "nicht nur in einem Verhältnis zum intentional autorisierten manifesten Gehalt" steht, sondern "in den fragmentarisch aufscheinenden Spuren innerhalb der Brüche des Überschreibungstextes interpretatorische Varianten an[bietet], die in ihrer verborgenen textuellen Kohärenz zu rekonstruieren sind". In diesem Kontext thematisiert die Verfasserin primär die Frage nach dem "verdrängten, marginalisierten und überschriebenen kulturellen Text", wobei sie von einem gemeinsamen Subtext der Autoren ausgeht und die "differente Funktionalisierung der latenten Sinnstruktur" untersucht. Titel gebend für ihre Untersuchung ("Spuren des Sagens") ist ein von Emmanuel Lévinas im Rahmen seiner Philosophie der extremen Ethik vorgeschlagenes Unterscheidungskriterium innerhalb der Sprache: Das ontologische Sprechen, das "Gesagte" (dit), ist vom ethischen "Sagen" (dire) abzugrenzen. Zu Recht verweist Dorothee Gelhard darauf, dass dieses "Sagen" nicht benennt, sondern die ontologischen Formen durchbricht, ohne sie zu dekonstruieren: "Erfahrbar wird dieses 'Sagen', das vom Unendlichen weiß und vom Unnennbaren 'spricht', in der Hinwendung an den Anderen, ohne diesen jedoch jemals identifizierend zu erreichen". Die "Spuren des Sagens" konstituieren damit ein Ich, das in der Verantwortung ist, vom Anderen angerufen zu sein, bevor dies in Zeichen kodiert wird.

Die in diesem Zusammenhang für Lévinas zu Recht konstatierte Nachordnung der Ästhetik gegenüber der Ethik versucht Gelhard in einem zweiten Schritt in den Bereich der Literatur zu transponieren, was zweifelsohne mit einiger Berechtigung geschieht, zumindest aber in dem Moment problematisch wird, wenn die Vorrangstellung der Ethik über die Ästhetik zu apodiktisch behauptet wird. Das wird an manchen Stellen im zweiten Teil der Studie deutlich, nachdem der erste Teil die historische Folie der jüdischen Hermeneutik kenntnisreich skizziert hat, vor deren Hintergrund die ausgewählten Texte gedeutet werden. Der Bogen der behandelten Autor(inn)en spannt sich von Franz Kafka über Bruno Schulz und Joseph Roth in einem ersten Abschnitt, die "aufgrund ihrer Sozialisation und Selbstkonzeptualisierung die klaren Zuordnungen von Ost- und Westjuden als fragwürdig und labil erscheinen lassen", von Nelly Sachs und Shmuel Joseph Agnon bis zu Edmond Jabès in einem zweiten und letzten Abschnitt. In ihrer Bewertung Jabès', der "in besonderer Weise die Frage nach einer Erweiterung des abendländischen Moderne-Begriffs provoziert", ist Dorothee Gelhard zuzustimmen, wenn auch ein Vergleich mit dem - hier leider ausgesparten - Paul Celan verdeutlicht hätte, dass der Versuch, "aus dem Bruch heraus, den die Shoah gerissen hat, weiterzuschreiben", keineswegs nur unter ethischen Gesichtspunkten erfolgt ist. Daher ist auch den diesbezüglichen grundsätzlichen Vorbehalten der Verfasserin gegenüber einer Deutung der Texte Jabès' unter Zuhilfenahme poststrukturalistischer Theoreme zu widersprechen.

Gleichwohl liegt das große Verdienst der hier versammelten Studien zweifelsohne in dem Ansatz, die Frage nach den Strukturen jüdischer Überlieferung im Kontext der Moderne stärker als bisher geschehen im Bereich literaturwissenschaftlicher Forschung zu verhandeln. Unstrittig ist die konstatierte methodische Korrelation zwischen moderner und zeitgenössischer literaturwissenschaftlicher Theorie und rabbinischem Midrasch; eine Korrelation, die der re-lecture literarischer Texte fraglos zugute kommt. Darüber aber, mit welchem theoretischen Besteck das zukünftig zu geschehen hat, lässt sich trefflich streiten - aber die Streitkultur wurde ja bereits von den jüdischen Schriftkundigen mit großer Freude betrieben.


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Dorothee Gelhard: Spuren des Sagens. Studien zur jüdischen Hermeneutik in der Literatur.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
146 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3631526253

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