Unbeirrbare Frauen und zögernde Männer

Der Geschlechterdiskurs in Fontanes Romanen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frauenrechte? Frauenstimmrecht gar? Nun ja, "[m]an kann all diesen Dingen gegenüber sagen 'warum nicht!' aber doch noch mit größerem Recht: 'wozu?'" meinte Theodor Fontane in einem Brief an seine Frau Emilie ebenso gelangweilt wie ablehnend. Das war 1870. Doch auch später wird man ihn kaum als engagierten Kämpfer für die Sache der Frauenbewegung bezeichnen können, auch wenn manche Schicksale seiner weiblichen Figuren aus den letzten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts dies nahe zu legen scheinen. Wie die Germanistin Andrea Gnam zeigt, vertragen sich die geschlechterspezifischen Eigenschaften seiner Romanfiguren - "unbedingte, rigide Frauen" und "zögernde Männer", die sich vor "dem Feuer und der Energie der Frauen" so lange wie möglich schützen wollen - durchaus mit seinem patriarchalischen Standpunkt zu den Zielen der zeitgenössischen Frauenbewegung.

Gnam untersucht Fontanes Geschlechterkonstruktionen in einem von Sabina Becker und Sascha Kiefer herausgegebenen Sammelband zum Geschlechterdiskurs in den Romanen des bürgerlich-realistischen Autors aus der Mark Brandenburg. Hierzu kontrastiert Gnam die geschlechterdifferenten Ehrvorstellungen des Personals in Fontanes Romanen. Zeichne sich der Ehrbegriff von Stine und anderen weiblichen Figuren dadurch aus, dass er "in seiner einmal eingenommenen Tendenz unbeirrbar" sei, so sei der Ehrbegriff der männlichen Figuren kaum durch deren "subjektive Auslegung" bestimmt. Eine wesentliche Rolle hierfür spiele die Sexualmoral. Sei sie verletzt worden, hätten die männlichen Figuren nach vorgegebenen Reaktionsmustern zu handeln. Allerdings gewähre Fontane ihnen eher die Möglichkeit, sich von fragwürdig gewordenen Ehr- und Moralbegriffen zu verabschieden. Zudem seien die moralischen Maßstäbe der Frauen zwar nicht so "spektakulär" wie "die männlichen Todesrituale", doch würden sie um so "rigoros[er]" verfolgt. Als Ausnahme darf man hier wohl an die titelstiftende Figur der Novelle "Grete Minde" denken, deren Tat sicherlich spektakulärer ist als die aller männlichen Figuren in Fontanes Œuvre zusammen.

Widmet sich Gnams Aufsatz mit den "unbeirrbare[n] Frauen" und den "zögernde[n] Männern" einem bestimmten Thema, so sind andere Beiträge des vorliegenden Bandes werkorientiert. Sabina Becker etwa geht "'[w]iederhergestellte[r]' Weiblichkeit" und "alternative[r] Männlichkeit" in dem Ehebruch-Roman "L'Adultera" nach, Bettina Plett widmet sich der Novelle "Cécile" und Volker C. Dörr beleuchtet die vielfältigen Beziehungen von Sprache und Geschlecht in "Irrungen, Wirrungen". Eine Ausnahmestellung nimmt der letzte Beitrag ein, in dem Regina Dieterle die Krankengeschichte von Fontanes Tochter Martha nach- und deren Niederschlag in Fontanes Werk aufzeichnet. Dieterle zufolge wurden Fontanes "Frauenromane" von "Frau Jenny Treibel' über "Effi Briest" bis hin zu "Mathilde Möhring" von Marthas Leiden "inspiriert". Der Zwiespältigkeit aber, die Fontane gegenüber emanzipierten Frauen gehegt habe, habe eine "gewisse Ambivalenz auch der töchterlichen Existenz gegenüber" entsprochen.

Zwar fügt dieser letzte Aufsatz den literarischen Interpretationen des Bandes einen interessanten Aspekt hinzu; der umfangreichste, innovativste und so auch bemerkenswerteste Beitrag jedoch eröffnet ihn: Petra Kuhnaus Blick auf die Darstellung nervöser Männer und Frauen in Fontanes erzählerischem Werk. Ziel ihres Aufsatzes zur "Symbolik der Hysterie" ist es, "die These von der Annäherung der Geschlechter primär über die Konstruktion von Männlichkeit zu verfolgen". Die Autorin zeigt zunächst, dass Fontane seine männlichen Figuren mit hysterischen Symptomen ausstattet. Dies alleine war so unbekannt nicht. Doch darüber hinaus arbeitet Kuhnau heraus, dass Fontane nicht - wie von der Forschung bislang angenommen - die Geschichte einer hysterischen Person erstmals anhand der weibliche Titelfigur des Romans "Cécile" (1886) darstellt, sondern bereits vier Jahre zuvor anhand der männlichen Figur Schach von Wuthenow im gleichnamigen Roman. Dass dies bislang übersehen wurde, ist Kuhnau ein Indiz dafür, "[d]ass die Konzentration der Forschung auf die Frauenfiguren den Blick auf die Männerfiguren zuweilen ganz verstellen kann". Nicht Frauen-, sondern Geschlechterforschung ist also angesagt, auch in der Literaturwissenschaft.

Auch zahlreiche andere Figuren beider Geschlechter in Fontanes Romanen und Novellen bilden Kuhnau zufolge hysterische Symptome aus. Ebenso wie bei den weiblichen Figuren könne die Hysterie auch bei den männlichen als "Aufbegehren im kulturellen Deutungsmuster" gelesen werden. Denn beide Geschlechter reagierten in derselben hysterischen Weise" auf die ihnen zugemuteten Geschlechterrollen.

Die Frage allerdings, ob Fontane mit dieser "hysterischen Emanzipation der Geschlechter" die "Polarisierung der Geschlechtscharaktere" unterläuft, wird von Kuhnau dezidiert verneint. Zwar habe das geschlechtsspezifisch differenzierende "Hysterie-Neurastenie-Paradigma" in den 1880 Jahren den "Hysterie-Hypochondrie-Diskurs" abgelöst, dem diese Differenzierung noch unbekannt gewesen war. Der Paradigmenwechsel sei also gerade in die Zeit gefallen, in der Fontane begann, sich einen Namen als Erzähler zu machen. Doch sei das neue Paradigma von Fontane nicht rezipiert worden. Paradoxer Weise wirke er heute gerade darum "progressiver" als die Autoren der Moderne, deren Werke zwanzig Jahre später dem Diskurs der Geschlechterdichotomie Ausdruck verliehen.

Wie - nahezu - alle Beiträge des vorliegenden Bands löst Kuhnaus erhellender Aufsatz das von den HerausgeberInnen in der Einleitung gegebene Versprechen einer "aufmerksamen, gendersensiblen Neulektüre" von Fontanes Romanen, Novellen und Erzählungen ebenso ein wie die Ankündigung einer kritischen Berücksichtigung der Sekundärliteratur, deren "explizit wie implizit vorgenommenen Wertungen und Urteile" nicht zuletzt in Kuhnaus kleiner Studie "radikal hinterfragt" werden.


Titelbild

Sabina Becker / Sascha Kiefer (Hg.): "Weiber weiblich, Männer männlich"? Zum Geschlechterdiskurs in Theodor Fontanes Romanen.
Francke Verlag, Tübingen 2005.
280 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-10: 3772080847

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